TJing – Pflicht Klangqualität

MUsicalizador tradicional Christian Tobler

Um meine Funktion als Transmitter in einer komplexen sozialen Synapse an Milongas und Bällen auch technisch meistern zu können, ist bezüglich Audiotechnik so breites wie tiefes Knowhow gefordert. Das beginnt bei simplen Dingen mit grosser Wirkung, welche jedem aufmerksamen Tänzer in Auge/Ohr stechen. Technisch versierte TJs benützen niemals einen Kompressor, weil das im Zusammenspielt mit ÉdO-Aufnahmen immer ein übler Klang-Abstreifer ist. Gelegentlich macht der Einsatz eines hochwertigen Equalizers Sinn. Aber nur, falls ein TJ dessen subtile Handhabung tatsächlich beherrscht. In über 90% der Fälle sind vorhandene Mischpulte in Tanzschuppen das grösste Problem. Hier hilft nur, diese mit eigener, ÉdO-tauglicher Audiotechnik komplett zu umgehen. Technisch versierte TJs halten den Signalweg so lang wie notwendig aber kurz wie möglich und verwenden professionelle Audiogeräte, die nicht für elektrische oder elektronische Instrumente entwickelt wurden. Womit 90% der Geräte auf dem Markt aus dem Rennen sind. Professionelle Audiogeräte auf denen Pro kein Etikettenschwindel ist, gibt es nicht für einen Apfel und ein Ei. Technisch versierte TJs erkennt man immer daran, dass sie während der Milonga immer wieder Mal kurz auf die Tanzfläche treten, um sicherzustellen, dass der Schallpegel weder zu leise noch zu laut ist und allfällige Equalizer-Einstellungen nicht aus dem Ruder laufen. Denn dort wo ihr Arbeitsplatz steht, klingt es fast immer völlig anders als auf dem Parkett. 

Perfektionisten der Cuarentas

Die musikalischen Macher der Época de Oro – Komponisten, Dichter, Arrangeure, Orchesterleiter, Musiker, Sänger und Tonmeister – haben aber nicht nur aus musikalischer Sicht beispiellose Qualität geliefert. Das Aufnahmeverfahren der EdO war Hightech pur, ein Direktschnittverfahren mit sehr viel besserem Sound als gemeinhin angenommen. Meist sind die eher schlechten bis katastrophalen Restaurationen der letzten sechs letzten Jahrzehnte das eigentliche Problem. Um erfassen zu können, wie atemberaubend grossartig diese Kreativen musiziert haben, bedarf es auch heute professionellen Equipments aus dem Tonstudio.

So gehört eröffnen diese alten Scherben neue Klangwelten und manche musikalische Leistung von damals bekommt einen ganz anderen Stellenwert. Und ja – das setzt die Messlatte für kontemporäre Formationen extrem hoch. Denn Nischenplayer von heute müssen sich an Mainstream von damals messen lassen, die aus einem schier unendlichen Fundus an Kreativen und Infrastruktur schöpfen konnten.

Kommt hinzu, dass ein zentrales Element von damals heute künstlerisch beinahe nicht mehr existiert. Zumindest nicht auf einem Niveau, welches der Rede wert ist. Gemeint sind Tango-Sänger. Mir sind im Moment vier Vokalisten bekannt, die es künstlerisch wert sind, sie sich anzuhören. Aber dazu zu tanzen macht keinen Spass, weil sowohl deren als auch deren Musiker Bereitschaft und Fähigkeit explizit für Tänzer zu musizieren verloren gegangen sind. Dass der gebotene Augenschmaus einer live performance diese Tatsache überhören lässt, ändert daran nichts. Man könnte dann jeweils von einer fata morgana sprechen.

Troilos Gran Orquesta im Tonstudio von RCA-Victor in Buenos Aires.

Die ÉdO – CDs und Downloads

Die Aufnahme der Época de Oro wurde in den letzten 30 Jahren auf rund 1’500 CDs in immer wieder anderen Zusammenstellungen in unterschiedlichster Qualität veröffentlicht. Dieser Markt schrumpft jedoch rasant. 2019 sind aus diesem Fundus keine 500 CDs mehr lieferbar. Dafür tauchen vermehrt online downloads auf dem Markt auf.

Dafür wurden jedoch nie Mastermatrizen herangezogen, weil die Master in den 60ern absichtlich zerstört wurden. Ausgangsmaterial für Transfer und Restauration ist daher ein Gemisch aus Schellacks in mehr oder weniger spielbarem Zustand, in den 50ern von damals noch vorhandenen Mastern überspielten Tonbandspulen fragwürdiger Qualität und allerlei Reeditionen auf LP, die leider oft mit damaligen technischen Mitteln zeitgeistig verunstaltet wurden.

Grundsätzlich lassen sich mit noch existierenden Schellacks genügend Sorgfalt vorausgesetzt immer noch tolle Resultate erzielen. Aber auch beste Tonmeister benötigen dafür viel Zeit und teures Equipment. Ein professionell ausgestatteter Arbeitsplatz für Audio-Restauration kostet zwischen CHF 100’000 und 200’000. So viel Zeit und Geld investieren die heutigen major Label für damalige Aufnahmen von RCA-Victor und Odeon nicht, weil Tango Argentino zwar ein globaler Markt ist, jedoch extremer Nischenmarkt mit minimalen Stückzahlen bleibt.

Andrew Hallifax und Christian Tobler während der Entwicklung des Golden-Ear-Prozesses von TangoTunes.

Zu Tode restauriert

Bezogen auf Restauration ist weniger fast immer mehr. Leider konnten in den letzten 60 Jahren viele Tontechniker der Versuchung nicht widerstehen, mit der rasanten technologischen Entwicklung in Sachen Restauration zu spielen und dabei haben es viele Tontechniker übertrieben. Diese Technologie ist übrigens – analog wie digital, Hard- und Software – ein Abfallprodukt von Lauschtechnik für Geheimdienste. Daher der gigantische Innovationsschub der letzten 20 Jahre. Der Markt für Audio-Restaurationen hätte den Entwicklungsaufwand dafür niemals finanzieren können.

Es liegt in der Natur der Sache, dass zB menschliche Stimmen und der Geräuschteppich einer Schellack/78er sich weitgehend dasselbe Frequenzspektrum teilen. Wo immer so viel gefiltert wurde, dass der Geräuschteppich ganz weg ist – und das war und ist wegen mangelnden Knowhows leider viel zu oft gängige Praxis – raubt das der Musik die Seele, jenes Element welches Haare auf dem Unterarm aufrichtet, einen kalten Schauer über den Rücken jagt. Resultat: Die Musik atmet nicht mehr, lässt einen ein Stück weit kalt, klingt unnatürlich. Und das nicht nur weil viele Teile der Töne fehlen, sondern weil die ganze Rauminformation, der natürliche Hall weg ist, jene subtilen Aspekte die jede Tonkonserve für unser Hirn zu einem realistischen und damit bewegenden Erlebnis formen.

Darunter leiden ganz besonders die Sänger, Träger der stärksten Emotionen. Auf schlechten Restaurationen verlieren sie so ihr Fundament. Wir hören die Resonanz des Brustkorbs genauso wenig wie Nuancen der Stimmbandschwingungen oder Formveränderungen der Mundhöhle. Bei Geigen geht der Schmelz verloren, sie klingen metallisch-kalt. Bei Bandoneons verblassen die Klangfarben und das Ansauggeräusch des Balgs ist nicht mehr zu hören. Meterlange Flügel werden zu nervigen Keyboards auf Kinderüberraschungseiniveau. Beim Kontrabass – sowieso das schwächste Glied in der damaligen Aufnahmekette – macht akzentuiertes Zupfen, Schlagen oder Streichen der Saiten undefinierten, dumpfen Schwingungen Platz, die alles kaschieren und enorm ermüden. Und Klarinetten verlieren wie alle Blasinstrumente viel ihrer hölzernen oder metallischen Sonorität.

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Weltbekannte Musikschaffende aus dem Pop reden Klartext zum Thema akustischer Alptraum MP3.

Gefragt ist Professionalität

TJ-ing, das bedeutet für mich, für jede Milonga alles geben und neben dem Schaffen von inspirierendener Musikprogrammation immer auch der Klangqualität besonders Sorge tragen. Als TJ vermeide ich mit Ausnahme der Cortinas die Arbeit mit prinzipbedingt verlustbehafteten und für grosse Räume technologiebedingt vollkommen ungeeigneten Speicherformaten wie mp3 und Co, weil das eine Negativspirale ohne Ende ist, die egal wie grossen Aufwand man treibt nicht mehr zu retten ist.

Zudem mache ich mir die Mühe, aus zahllosen Doubletten ein und derselben Aufnahme auf verschiedensten CDs und online downloads mittels Mastering-Monitoren die am besten klingende für gute PA-Technik und die bestmöglich klingende für schlecht klingende PA-Technik herauszuhören – natürlich mit genügend Restrauschen zwecks reichlich Schmelz und Thrill. Aber eben nur für gute PA-Technik. Schlecht PA-Technik kanibalisiert gute Restaurationen häufig. Das ist absurd, muss jedoch stets berücksichtigt werden.

TangoTunes tut viel, um die Aufnahmen der ÉdO angemessen klingend auf den Markt zu bringen.

Traurige Realität

Vor Ort treffe ich als TJ oft auf PA-Equipment, welches für Tango Argentino entweder vollkommen ungeeignet und/oder in desolatem Zustand ist. Mit akustischen Instrumenten eingespielte Musik ist um ein Vielfaches anspruchsvoller betreffend Wiedergabe als die heute in Tanzschuppen dominante, elektronische Musik. Kleinste Mängel stören die Wiedergabe von Flügel und Kontrabass, Bandoneon und Geige sofort, was den Tanzspass mindert. Und die Stimme eines guten Sängers ist so ziemlich das Schwierigste, was es wiedergabetechnisch gibt. Oft reicht es zudem, dass ein anderer TJ ein Lautsprecherchassis einmal für wenige Sekunden heftig übersteuert und so beschädigt hat, damit Musik von akustischen Instrumenten damit nur noch verzerrt wiedergegeben wird.

Daher mache ich stets einen richtigen Soundcheck. Nicht immer lassen sich Mängel sofort beheben. Aber Schwächen die man kennt, kann man manchmal umgehen oder abschwächen. Wo immer möglich verwende ich daher eigenes Equipment – von dem ich weiss, dass es klanglich gut genug und mechanisch wie elektrisch intakt ist. Wo das nicht möglich ist, umgehe ich wenigstens Mischpult und Equalizer – erfahrungsgemäss fast immer die schwächsten Glieder von PA-Ketten in Tanzschuppen – und steuere die Endstufen mit intakten Kabeln direkt an. Gute Erfahrungen mache ich zudem immer wieder mit subtilen Anpassungen vor Ort – mittels Equipment auf Mastering-Niveau, was jedoch ausreichend Vorbereitungszeit zum Einhören und Ausprobieren vor der Milonga bedingt.

Die Aufnahmetechnik von damals war ein sophistiziertes Direktschnittverfahren auf Wachsmatrizen.

Es macht einen Unterschied, einen grossen

Und wozu dieser Aufwand? Schliesslich hören bei weitem nicht alle Tänzer diese Unterschiede und estimieren sie auch. Ganz einfach: Weil trotzdem jeder Tänzer auf gute Klangqualität unbewusst positiv reagiert. Unser Hirn funktioniert nun mal genau so.

Wenn neben der Musikprogrammierung – welche natürlich stets die erste Geige bei mir spielt – auch die Klangqualität für Furore sorgt – wird mehr und länger getanzt und vor allem mit besserer Laune. Ausserdem gibt es dann weniger Karambolagen auf dem Parkett. Denn maltraitierte Ohren ermüden schneller und senden dem Hirn ständig negative Impulse. Das muss nicht sein an einer sonst schönen Milonga.

So viel Respekt und Sorgfalt verdienen nicht nur die Kreativen von damals, deren Aufnahmen zu Recht das Fundament fast jeder grossartigen Milonga bilden, sondern auch die BesucherInnen einer Milonga, die mir mit ihrer Anwesenheit ihr Vertrauen schenken.


Techrider für Veranstalter
Argentangos Techrider bezüglich technischer Voraussetzungen als PDF.

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