Replik | 01 – Vorbemerkungen

I know you belive you understand what you think I said, but I'm not sure you realize that what you heard is not what I meant. anonym
Ein Blog? Nein! Obwohl…

Ich hatte nie vor, bezüglich TA ein eigenes Blog zu führen und daran hat sich nichts geändert. Wenn ich mich mal ausführlich zu einem TA-Thema äussern wollte, habe ich bei Cassiel, dem meistgelesenen deutschsprachigen TA-Blog angefragt, ob Interesse an einem Gastbeitrag zum Thema besteht. Nun ist seit dem letzten Sommer bei mir ein Text mit dem Umfang eines Buches von über 300 Seiten mit über 200 Abbildungen und Links entstanden, den ich veröffentlichen möchte. Auf Grund des Themas glaube ich nicht, dass dieser Text auf bedrucktem Papier Erfolg hätte. Er gehört online publiziert, weil der Appetit darauf bei vielen Lesern erst mit dem Einlesen ins Thema kommt. Aber auch, weil das Verstehen meiner Argumentation erst im Zusammenhang mit unzähligen Links funktionieren kann, welche ich mittels Abbildungen mitliefere. Internet-Verlinkungen sind aber oft schon nach kurzer Zeit unter der gespeicherten URL nicht mehr abrufbar. Dazu ist das Internet ein zu flüchtiges, dynamisches Instrument. Dann führt eine Suchmaschinenabfrage meist trotzdem ans Ziel. Ursprünglich war auch deshalb geplant, dass dieser Text in Cassiels Blog als Gastbeitrag veröffentlicht wird. Dazu ist es aber nie gekommen, weil Cassiel seit längerem nicht genug Zeit freischaufeln kann, um diesen umfangreichen Text innert nützlicher Frist erscheinen zu lassen. Was angesichts des Umfangs des Texts verständlich ist. Daher habe ich beschlossen, diesen Text selbst zu veröffentlichen, weil ich der Ansicht bin, dass das Thema brandaktuell ist, jetzt und nicht irgendwann aufs Tapet gehört. Frauen sollen sich vom Aspekt anspruchsvoller technischer Zusammenhänge keinesfalls abschrecken lassen. Mag sein, dass mancher Frau der Zugang dazu schwerer fällt, als einem sogenannt gestandenen Mannsbild, welches die Überzeugung lebt, es habe bei Technik grundsätzlich totalen Durchblick. Denn dem ist oft überhaupt nicht so. Häufig beobachte ich, dass Frauen in Audiobelangen viel schneller als Männer HÖREN was Sache ist, weil sie unvoreingenommener und subtiler agieren und nicht selbstverliebt Vorurteile zelebrieren und vor allem nichts beweisen müssen. Vorausgesetzt Frauen trauen sich, zum Thema eine eigene Meinung zu vertreten. Immer dann wird es in einer Gruppe von Hörern besonders spannend und konstruktiv. Frauen haben den riesigen Vorteil, sich nicht einzubilden ihre Weiblichkeit wäre in Frage gestellt, falls sie in technischen Belangen keine Deutungshoheit beanspruchen können. 


Christian Tobler

nicht nur von Kompressoren und Equalizern

eine notwendige Replik

leise und gut anstatt laut und schlecht hat im TA Potential

oder die Krux mit dem Nicht-zu-Ende-Denken von Prozessen


Natürlich ist es ein Wagnis, einen so umfangreichen Text in einem Blog zu veröffentlichen. Sein Umfang ist der technischen Komplexität des Themas geschuldet und den sich daraus ergebenden Wechselwirkungen mit anderen Aspekten. Das habe ich mir nicht aus den Fingern gesogen. Ich habe lediglich Ohren und Augen nicht vor der Realität verschlossen. Natürlich gibt es dicke Fachbücher zum Thema, für Tontechniker geschrieben, welche bereits umfangreiches Wissen mitbringen. Aber bis heute gab es keine Veröffentlichung, die einerseits auf die Besonderheiten des TA und die Qualitäten des Direktschnittverfahrens für Schellackplatten bis 1950 eingeht und andererseits auf das im Vergleich mit Tontechnikern beschränkte Wissen von DJs und Veranstaltern im TA Rücksicht nimmt, ohne so sehr zu vereinfachen, dass die Resultate am Ende klanglich unbefriedigend ausfallen. Nicht in diese Falle zu tappen war, ist und bleibt eine ständige Gratwanderung.

Die Möglichkeit zu kommentieren wird deaktiviert bleiben. Das hängt mit dem Thema zusammen. Ich vertrete die Ansicht, dass es 2016, auf einen kurzen Nenner gebracht, Zeit ist, endlich zu handeln, anstatt im TA noch ein paar Jahre zu diskutieren und nichts zu tun, wie das bisher praktiziert wurde. Ich gehe davon aus, dass es zwei drei Jahre dauern wird, bis diese Replik seine Wirkung ganz entfaltet. Entscheidend wird sein, ob genug Leser nach der Lektüre irgendwann anfangen umzusetzen, was sie verstanden haben werden. Es hat mich über zehn Jahre Hartnäckigkeit gekostet, die dem Artikel zugrunde liegenden Tatsachen zu erforschen, die sich daraus ergebenden Zusammenhänge zu verstehen, und umzusetzen was sich daraus für traditionelle DJs an Konsequenzen ergab. In den letzten zwölf Monaten habe ich mir die Mühe gemacht, dieses Wissen mit vielen Abbildungen und Links so aufzubereiten, dass DJs und Veranstalter im TA daran teilhaben und wachsen können. In diesem Sinn lade ich Leser zu einer gar nicht alltäglichen aber spannenden, nicht ganz einfachen aber bereichernden Reise ein, die nicht nur Defizite benennt, sondern Lösungen skizziert und wo nötig Klartext spricht. Hier und jetzt möchte ich daraus nur einen Satz vorwegnehmen: Wir sollten im TA endlich aufhören, Woche für Woche gnadenlos abzustrafen, was wir behaupten zu lieben.


In den kommenden Tagen wird diese Replik vom März 2016 hier Teil für Teil veröffentlicht werden:

01 – Vorbemerkungen | 02 – Das Grosseganze | 03 – Sackgasse Equalizer | 04 – Sackgasse Kompressor | 05 – Pragmatische Lösungen | 06 – Meine Legitimation | 07 – Kritische Würdigung | 08 – Schlussfolgerungen | 09 – Nachtrag: Pugliese | 10 – Nachtrag: Links | 11 – Nachtrag: Kritik

Abkürzungen: TA steht für Tango Argentino – EdO steht für Época de Oro und gemeint ist damit jene Definition der goldenen Ära etwa von 1937 bis 1946 – BA steht für Buenos Aires – PA steht für public adress, Beschallungsanlage für grössere Gruppen. 


Vorwort

Wenn menschliche Kommunikation sich um das Thema hören dreht, fallen Verständnis wie Verständigung besonders schwer, da wir in einer Welt leben, in der sehen das Sagen hat und Worte, die beschreiben was wir hören, uns schon lange nicht mehr auf der Zunge liegen.

Die meisten nach 1980 Geborenen können kein Musikinstrument spielen und keine Noten lesen. Das war bei bis 1920 Geborenen völlig anders, die 1940 20 Jahre oder älter waren und die Epoche der EdO geprägt haben. Viele dieser Menschen konnten ein Instrument spielen und sehr viel mehr Menschen als heute konnten Noten lesen. Live gespielte Musik mit akustischen Instrumenten war Teil ihres Alltags, auch in privatem Rahmen. Daher war der Umgang dieser Generation mit Musik ein anderer. Als Macher genauso wie als Konsument, weil sie über ein tragfähiges Fundament in Sachen Musik verfügten.

So betrachtet sind viele von uns in Sachen Musik heute halbe Analphabeten. Allerdings tragen wir dem nicht nur im TA oft nicht Rechnung. Aus diesem Mangel an Realitätssinn und Bescheidenheit entsteht viel Ignoranz im Umgang mit Musik und damit zwangsläufig im Umgang mit Tanz. Denn Tanz entsteht aus, lebt von, atmet durch Musik. Ich bin NICHT der Ansicht, dass wir deshalb jetzt alle lernen sollten, Noten zu lesen und ein Instrument zu spielen. Obwohl das für Macher wie Konsumenten im TA ein Gewinn wäre.

Worum wir jedoch nicht herum kommen werden, ist ein gerütteltes Mass mehr an Sorgfalt im Umgang mit TA der EdO. Dafür möchte ich mit diesem Gastbeitrag aus aktuellem, brisantem Anlass eine breite Bresche der Motivation, nicht der Konfrontation schlagen. Dafür werde ich einige Dinge im Interesse der Sache deutsch und deutlich beim Namen nennen müssen, damit sich mit der Zeit etwas verändern kann.


Oberflächlich betrachtet mag dieser ellenlange Artikel aus acht (ursprünglich geplanten) Teilen beim Scrollen anstatt Lesen den Eindruck vermitteln, hier würde sich alles um Audiotechnik drehen. In Tat und Wahrheit macht jedoch ein ganz anderes, übergeordnetes Thema das Rennen. Im Prinzip interessiert mich Technik nicht die Bohne. Sich damit zu beschäftigen ist anstrengend und zeitintensiv. Mit Technik beschäftige ich mich lediglich insoweit das notwendig ist, um Tonkonserven der EdO angemessen wiedergeben zu können.

In diesem Artikel geht es also wie immer bei mir um einen pragmatischen, lösungsorientierten Ansatz, der allerdings, und das ist essentiell, über den status quo hinausreichend analysiert und entwickelt, weil Wiederkäuen des Menschen Ding nicht ist: Hier geht es um die Frage was nötig ist, um in einem Tanzschuppen TA der EdO klanglich angemessen wiederzugeben und damit im Kern nicht um Technik, sondern um Musik, um die Frage wie wir mit dem Kulturgut Musik umgehen und wie wir betreffend Musik miteinander kommunizieren: hörend, verbal, schreibend, tanzend und leider auch ignorierend. Vor allem geht es auch darum, die Dinge zu Ende zu denken und Lösungen fertigzustellen, anstatt an der ersten Steigung das Handtuch zu werfen, sich in die Büsche zu schlagen und dafür faule Ausreden zu ventilieren.

Technik kann bei dieser Aufgabe lediglich Mittel zum Zweck sein – ohne eigene Agenda, ohne jegliche Federführung. Sonst verlieren wir unsere Freiheit. Klappen kann das nur, wenn DJs bestmögliche Restaurationen verwenden, ihre eigene und die im Raum vorhandene PA-Technik beherrschen und es gewohnt sind, aus vorgefundener Raumakustik das Beste zu machen, anstatt angesichts dieser vier Aspekte ratlos ausgeliefert zum Handlanger zu mutieren und damit seine Aufgabe zu ignorieren. Landläufige, laienhafte Vorstellungen darüber, wie TA-DJs diese Aufgabe ohne langes Federlesen auszufüllen vermögen, führen in eine klangliche Wüste. Das ist mit TA der EdO keine triviale Aufgabe. Sie zu bewältigen ist niemandem in die Wiege gelegt. Aber sie lässt sich erlernen – mit Ohren, die geschult sind.


Manche DJs, aber auch Veranstalter verwechseln DJen im TA mit einer Spielwiese unbegrenzter Freiheiten. Weil DJen so am meisten Spass machen soll, von wegen kreativer Freiheit als unantastbares menschliches Grundrecht. Tänzer an traditionellen Milongas sind aber nicht für den DJ da. Nur andersrum wird ein Schuh daraus. Wo dem nicht so ist, hat der DJ pro Tänzer Eintritt zu zahlen anstatt honoriert zu werden oder ungeschoren davon zu kommen. Denn DJs im TA mit Musik der EdO sind nicht Stars sondern Dienstleister. Die Stars jeder Milonga, jedes Encuentros sind die grossartigen Musiker von damals, die Tonkonserven, die uns von ihnen geblieben sind. DJs, die Tänzer als Selbstverwirklichungvieh missbrauchen, missbrauchen traditionelle Milongas als anarchistischen Spielplatz. Traditionelle Milongas sind codierte Ereignisse, deren Codices auf einer langen Entwicklung fussen, grösstenteils den Tanzspass der Tänzermasse befeuern.

Missbräuchlich agierende DJs praktizieren anything goes plus check it out. Damit mischen sie TA und nur TA auf, weil solche Eskapaden in allen anderen Gesellschaftstanz-Genres augenblicklich unterbunden würden – mit Ausnahme von Populismusformaten wie Let’s Dance von RTL Deutschland. Natürlich sind die egomanischen Wünsche solcher DJs erklärbar. In einer Welt, in der die individuelle Freiheit der meisten Menschen seit langem nicht zu- sondern abnimmt, suchen sich immer einige Menschen destruktive Ventile. Das sind aber klassische Übersprungshandlungen. Bei Übersprungshandlungen Ertappte reagieren meist entlarvend empört bis aggressiv. Dabei geben sie sich moralisch überlegen, von wegen anything goes plus check it out. Das ist aber nicht der Fensterkitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält. Die legitime Freiheit eines jeden Individuums endet meist dort, wo sein Tun die Freiheit anderer Menschen beeinträchtigt.


Das Thema noch ein paar Jahre zu ignorieren oder kleinzureden, weil es unbequem und fordernd ist, ist daher wenig hilfreich. Weil dieses Problem so lange wachsen wird, bis wir es beseitigen. Solche Ignoranz hat die Musik der EdO nicht verdient. Zudem hat diese Form von Ignoranz keine Zukunft im TA. Seit einigen Jahren verändern sich die Ansprüche von TA-Tänzern immer mehr. Sie entdecken klangliche Qualität als tänzerische Bereicherung und streben danach, je länger je mehr. Damit wird es für Macher in dieser Marktnische immer attraktiver, solche Wünsche zu erfüllen anstatt stur auf 08/15 oder noch weniger zu beharren.

Natürlich ist das Thema dieser Replik wie alles im Leben eine Frage der Haltung, aber themenbedingt für einmal trotzdem nicht Ansichtssache. Ein bisschen an TA herumfummeln geht genauso wenig wie ein bisschen Military reiten oder ein bisschen K2 besteigen, ein bisschen Weltumsegelung oder ein bisschen Jakobsweg, ein bisschen schwanger werden oder ein bisschen Eltern sein, oder meinetwegen, um explizit zu formulieren, ein bisschen Geschlechtsverkehr. Es gibt Dinge im Leben, die kann man nur ganz tun oder sein lassen – falls das etwas Gescheites, Liebenswertes werden soll. TA mit Musik der EdO ist eines dieser Dinge, weil TA eine anspruchsvolle und eifersüchtige, besitzergreifende und kapriziöse Geliebte ist, die einen eigene Grenzen gnadenlos erfahren lässt und trotzdem ungemein beflügelt. Falls man den Mut hat, in TA der EdO einzutauchen, anstatt nur an deren Oberfläche zu planschen.

FAZ Gesellschaft: Die taube Nation
Das Problem ist altbekannt. Die Gesellschaft unternimmt aber nichts, um daran etwas zu ändern, weil dafür mehr Geld und mehr Lehrer notwendig wären.

Replik_A17
Wenn dieses Problem lediglich unsere geographische Orientierung betreffen würde, wäre alles halb so wild. Statt dessen breitet sich das Problem dank Gedankenprothesen aus.

Der Auslöser für diese Replik

Im Dezember 2014 und Juni 2015 sind im englischsprachigen Tango-Blog Tango en el Espejo zwei Threads erschienen – Thread 1 zu Equalizern und Thread 2 zu Kompressoren – die nicht unwidersprochen bleiben sollen, weil ich von mehreren Seiten erfahren habe, zu was für Folgen diese Threads mancherorts im DJ-Alltag bereits geführt haben. Genau betrachtet tangieren beide Threads nicht nur fachtechnische Themen, was mich dazu zwingen wird den Bogen recht weit zu spannen und ziemlich tief zu schürfen, um für Laien einigermassen nachvollziehbar zu machen was Sache ist.

Einerseits sind manche DJs nicht in der Lage, die Argumentation in diesen Threads technisch zu überblicken und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen, die sich im DJ-Alltag als belastbar erweisen. Vermutlich wird ein Teil dieser DJs erkennen wo die Stolpersteine liegen, sobald die erste Euphorie vorüber ist. Andererseits begeistern sich DJs für die empfohlenen Gerätegattungen, deren Knowhow und/oder Technik dafür unzureichend ist. Dieses Problem wird sich kaum von allein lösen, auch nicht mit der Zeit.

Ich weiss nicht warum, aber manche Gegensätze – hier technische Geräte, die tiefgreifende Manipulation der Musik erlauben, und dort DJs, die es schaffen die PA-Technik an Milongas zu übersteuern und die Lautstärke über den Abend hinweg Achterbahn fahren zu lassen – scheinen sich magisch anzuziehen. DJs, die mit so elementaren Aufgaben ihres Handwerks überfordert sind, erweisen sich mit der Anschaffung eines Equalizers und Kompressors einen Bärendienst, weil sie damit lediglich ihre Fehler multiplizieren. Leider sind sich ausgerechnet diese DJs ihrer Defizite kaum bewusst. Sonst hätten sie sie längst beseitigt. Kein DJ macht sich wissentlich zum Affen. Oder sie hoffen, ihren Fehlern mittels Technik beizukommen. Das kann aber nicht klappen. Solche Fehler können nicht nachträglich korrigiert werden. Sie können nur vermieden werden. Und dafür braucht es kein zusätzliches Equipment, sondern Knowhow. Wer das kleine Einmaleins nicht drauf hat und deshalb jedesmal mühsam an den Fingern abzählen muss, wird nicht nur mit dem grossen Einmaleins heillos überfordert bleiben.

Unabhängig der finanziellen Möglichkeiten eines DJs macht es keinen Sinn, solche Geräte oder Emulationen anzuschaffen, bevor die technische Grundausstattung eines DJs von bester Qualität komplett ist und vor allem beherrscht wird. Zur Grundausstattung gehört natürlich auch eine ausgezeichnete Abhöre (Überraschung!) daheim, in einem akustisch nicht allzu problematischen Raum – und ganz viel Knowhow. Weil EdO hören auf diesem Niveau die Wahrnehmung dieser Musik auf den Kopf stellt und so neue Horizonte eröffnet, welche besseres DJen auch in musikprogrammatischer Hinsicht beflügelt.


Beide Threads des Autors El Espejero sind nicht mit heisser Nadel gestrickt. Die Anleitungen zum Gebrauch dieser Gerätegattungen sind gedanklich durchdacht und das Vorgehen wird Schritt für Schritt vermittelt. Leser ohne profunde Kenntnis der Materie erhalten daher den Eindruck, dass der Blog-Autor weiss, wovon er spricht und Nägel mit Köpfen macht, auch weil sich durch den ganzen Thread so etwas wie ein roter Faden zieht. Leser mit profunder Kenntnis der Materie entdecken aber schnell die falschen Schlussfolgerungen in der Argumentation, die vielen Halbwahrheiten, die unzulässigen Vereinfachungen und den technikaffinen, poplastigen Hintergrund des Blog-Autors, der zu Problemen führt. Daher erreichen des Blog-Autors Empfehlungen im DJ-Alltag schlussendlich das Gegenteil dessen, was er beabsichtigt. Und der rote Faden verflüchtigt sich angesichts des verbliebenen Stückwerks, weil die Analyse der Ausgangssituation zu kurz greift.

Die versprochene dramatische Verbesserung der Klangqualität gibt es im Milonga-Alltag nicht – mit so einfachen Mitteln und so wenig Knowhow, wie der Autor propagiert und besitzt. Warum dem so ist, werde ich für jeden verständlich erklären, der den Kopf nicht in den Sand steckt. Das lässt sich aber nicht aus den Hüften ballernd in drei Textabschnitten reisserisch darstellen. Nutzen aus dieser Replik werden nur Leser ziehen, die tatsächlich Lust darauf haben, sich auf das technisch anspruchsvolle Thema mit komplexen Abhängigkeiten einzulassen und sich die Zeit nehmen, beide Threads des Autors plus meine Replik nicht nur mehrmals sondern auch quer zu lesen und viele der weiterführenden Links zu erforschen. Denn ich werde den Dingen auf den Grund gehen, anstatt Behauptungen aufzustellen. Das zu lesen und zu verstehen wird Stunden beanspruchen und für viele Leser das unbequeme Verabschieden von Vorurteilen mit sich bringen – versprochen. So lange, bis der Cent fällt und man sich kopfschüttelnd fragt, warum einem all das nicht schon viel früher ins Auge, respektive Ohr gesprungen ist. Auch ich musste diesen Weg absolvieren.

Die Krux bei der Verwendung von Equalizern und Kompressoren für TA der EdO liegt tief in fachtechnischen Details verborgen. Das wiederum wird nur offensichtlich, wenn man die entsprechenden musikalischen Details nicht nur zu hören vermag, sondern auch zielsicher verorten kann. Trotzdem ist das alles keine Hexerei.


Worauf ich mich in dieser Replik beziehe
Replik_A01
Das erste Thread empfiehlt die Verwendung von Equalizern.
Replik_A02
Das zweite Thread empfiehlt die Verwendung von Kompressoren.
Replik_A03
Der Autor verlinkt auf die Web-Präsenz des spannenden akademischen Projekts Charm in England.
Replik_A04
Der Autor verlinkt auf Blogger Jens-Ingos Besprechung der Golden Ear Edition von TangoTunes.

Höreindrücke mit Studio- (Christian) und PA-Technik (Cassiel)

Natürlich habe ich mit eigener Technik 1:1 ausprobiert, was der Autor vorschlägt. Dazu habe ich sieben Tangos aus den Jahren 1927 bis 1945 beider relevanter Labels ausgewählt. Was der Autor propagiert, klingt mit Audiotechnik, welche den künstlerischen und technischen Qualitäten von TA der EdO angemessen ist, unerfreulich und unnatürlich. Aber auch mit Audiotechnik, welche dieser Musik nicht gewachsen ist, befriedigt das Resultat mit diesen Vorschlägen des Autors keinen EdO-Liebhaber. Weil ich daheim fast ausschliesslich mit Studiotechnik höre und am liebsten mit Studiotechnik auflege, habe ich Cassiel gebeten, der mit astreiner PA-Technik auflegt, die Vorschläge von el Espejero ebenfalls auszuprobieren und niederzuschreiben, was er dabei erlebt.

Der finale Vorschlag des Autors für sämtliche Aufnahmen von 1926 bis 49.

 Meine Wahrnehmung betreffend Equalizer

Was der Autor im screen shot oben vorschlägt sind keine kleinen Korrekturen: Vier Einstellungen im Bereich zwischen 9 und 18dB mit positiven wie negativen Vorzeichen – und das mit zum Teil enormem Q. Aber lassen wir dem Autor seinen Willen und hören wir uns an, was das bewirkt.

1. Test: Resultat mit einem schlechten argentinischen bootleg wie man es in BA bei Himschoot und später seiner Witwe auf Bestellung bekam – am Beispiel von Donatos Miau von 1934. Resultat: Klanglich eine Verschlechterung, sogar bei dieser schlechten Restauration.

2. Test: Resultat mit einer ziemlich ordentlichen argentinischen Restauration von Reliquias, dem back catalogue von Odeon Argentina – am Beispiel von Canaros El Adios von 1938. Resultat: Klanglich eine Verschlechterung, schliesslich sind die Restaurationen von Reliquias recht ordentlich.

3. Test: Resultat mit einer argentinischen Restauration von BATC/Carlos Puente – darunter findet sich von guten bis schlechten bootlegs von CTAs bis zu guten bis schlechten eigenen Restaurationen so ziemlich alles –  am Beispiel von Firpos Arrabalero von 1927. Resultat: Klanglich eine Verschlechterung.

4. Test: Resultat mit einer ordentlich bis guten japanischen Restauration von CTA/Akihito Baba – am Beispiel von d’Arienzos Humillación von 1941. Resultat: Klanglich eine Verschlechterung, aber das war nach den ersten drei Tests keine Überraschung, ganz besonders für die Stimme von Maure.

5. Test: Resultat mit einer weniger ordentlichen argentinischen Restauration von Tango Argentino, dem back catalogue von RCA-Victor Argentina – am Beispiel von d’Agostinos Shusheta von 1945. Resultat: klanglich eine Verschlechterung, obwohl diese Restaurationen nicht mit denen von Reliquias mithalten können.

6. Test: Resultat mit einer ziemlich ordentlichen argentinischen Restauration von Euro-Records/Carlos Puente – am Beispiel von di Sarlis Boedo y San Juan von 1943. Resultat: klanglich eine Verschlechterung, was mich hat überlegen lassen, ob ich den letzen Test überhaupt machen soll.

7. Test : Resultat mit einer guten Restauration der Golden Ear Edition von TangoTunes – Format 24/96 – am Beispiel von Tanturis Una Emotion von 1943. Resultat: wie zu erwarten klanglich eine ausgesprochen drastische, völlig unnötige Verschlechterung.


Ich verzichte darauf, zu den einzelnen Aufnahmen detailliert zu beschreiben, was ich gehört habe, weil die Resultate der vom Autor vorgeschlagenen Manipulationen trotz grosser Unterschiede der Restaurationsqualität der Aufnahmen überraschend homogen ausgefallen sind. Sie driften jedesmal ins Unnatürliche, Künstliche, Irritierende ab. So klingen weder akustische Instrumente noch Stimmen live. Das kann jeder Veranstalter, jeder DJ, jeder Tänzer nachvollziehen, der gelegentlich Konzerte besucht, bei denen akustische Instrumente unverstärkt zum Einsatz kommen. Es hilft auch nichts, den Vorschlag des Autors in seiner Intensität zu variieren. Dabei zeigen sich dieselben Defizite unterschiedlich stark ausgeprägt lediglich in etwas variierender Gewichtung der einzelnen Aspekte. Daher fasse ich meine Eindrücke unten für alle sieben Beispiele gemeinsam zusammen.

Gegen einen high pass allein, wie ihn der Autor vorschlägt, ist wenig einzuwenden, solange der eingesetzte Equalizer dabei keine problematischen Phasenverschiebungen produziert. In Kombination mit der Bassanhebung ist dieser high pass aber problematisch. Die vorgeschlagene Bassanhebung kann nicht angenehm klingen, weil diese bereits bei der Restauration in Form der technischen Entzerrung vorgenommen wurde. Resultat ist insbesondere ein aufgedickter, unkonturierter Kontrabass, der das ganze Orchester aus der Balance schmeisst. Kommt hinzu, dass bei Aufnahmen von RCA-Victor bis 1947 auf Grund der konstruktiv bedingten mechanischen Dämpfung des Schneidekopfs eine verzögerte Resonanz im Bereich um 160Hz herum vorhanden ist, die nicht verstärkt werden darf. Obwohl das den frühen Bassabfall etwas kompensiert, führt es zu einer klanglich unschönen Verklumpung unter 200Hz mit Auswirkungen auf das ganze Frequenzspektrum.

Warum die vorgeschlagene Beseitigung von Hall mit einer Absenkung bei 1kHz Humbug ist, werde ich weiter unten genauer erklären. Hall wurde nie mit Equalizern hinzugefügt. Daher kann er nicht mit Equalizern entfernt werden.

Die vorgeschlagene Obertonanhebung torpediert, wie die Bassanhebung, jede ordentlich gemachte technische Entzerrung und sorgt für einen schrillen Klang, der schnell ermüdet. Darunter leiden Stimmen ganz besonders. Bass- und Obertonanhebung zusammen verändern die Balance des musikalischen Geschehens nicht zu ihrem Vorteil. Es wird der Eindruck geschaffen, diese Orchester würden plump musizieren, monoton, einfältig, langweilig, weil bar jeder Subtilität bezüglich Feindynamik der Spielweise und den Klangfarben der Instrumente. Des Autors Korrekturkurve klingt unnatürlich. Was so verloren geht ist fatal und vor allem irreversibel. Weil dann ein angemessenes Fundament fehlt: natürlich klingende Mitten. TA der EdO ist kein Hiphop und kein Hardrock. TA der EdO gehorcht einem anderen, seinem eigenen Klangideal. In Kombination mit dem low pass ist diese Obertonanhebung noch problematischer. Gegen einen low pass allein, wie ihn der Autor vorschlägt, ist einiges einzuwenden, auch falls der eingesetzte Equalizer dabei keine problematischen Phasenverschiebungen produziert. Aber mit -3dB bei 8kHz und -9dB bei 10kHz wird für viele Aufnahmen der EdO zu früh beschnitten, weil damit subtile Anteile der Musik entfernt werden, was auch die verbliebenen Anteile der Musik verfälscht.

Im grossen Ganzen verstärkt der Autor ausgerechnet jene Schwachpunkte schlechter Restaurationen, unter denen die sowieso schon leiden. Und das macht keinen Sinn.


Meine Wahrnehmung betreffend Kompressor

Bezüglich Kompressor kann ich mich in den Vorbemerkungen noch kürzer fassen. Es gibt für mich sowohl bei Szenario eins als auch bei Szenario zwei des Autors keine Gründe, darauf ernsthaft einzugehen. Weil das im Genre Pop legitime technische Instrumentarium für einschneidende klangliche Eingriffe bei Aufnahmen von akustischen Instrumenten unangemessen intensiv angewendet scheitern muss. Die live-Haftigkeit guter TA-Aufnahmen der EdO wird mit einem so eingesetzten Kompressor reduziert. Die Musik verliert einen Teil ihrer Faszination. Und bei schlechten Restaurationen werden mit einem Kompressor digitale Artefakte hervorgehoben und damit Fehler verstärkt, die klanglich bereits vorher gestört haben. Unter anderem, weil digitale Artefakte nicht wie vom Autor angenommen zwischen 10 und 20kHz auftreten, sondern über das ganze Frequenzspektrum hinweg verteilt zu finden sind.

Dass TA der EdO mit einem so eingesetzten Kompressor unerfreulich klingt, ist lediglich ein Aspekt. Es steht DJs nicht zu, die künstlerischen Intentionen der Arrangeure, Orchesterleiter und Musiker von damals auf so unprofessionelle Weise aus ihrem sorgfältig austarierten Gleichgewicht zu schmeissen. Und das macht auch keinen Sinn. Konserven von TA der EdO sind keine anonyme Manövriermasse für DJs, sondern ein Kulturgut, welche der Pflege bedarf und erst durch Sorgfalt und tatsächliche Professionalität oder Amateurtum im eigentlich Sinn dieses Worts, im Umgang damit richtig aufzublühen vermag. Das ist keine Spielwiese für Laientrolle.

Zum dritten Szenario ist die Antwort schnell gegeben: Akustik-Defizite eines Raums lassen sich mit einem Kompressor nicht beseitigen. Entweder man beseitigt die Ursache. Oder man spielt so leise, dass die Defizite weniger stören. Oder man sorgt mit baulichen Massnahmen dafür, dass diese Defizite verschwinden. Oder man macht sich auf die Suche nach einem Raum mit weniger Akustikdefiziten. Nur nichts tun kommt nicht in Frage.


Cassiels Wahrnehmung in seinen Worten

Christian Tobler hat mich gebeten, einen kurzen unabhängigen Praxistest der o.g. Empfehlungen mit PA-Lautsprechern durchzuführen. In dem Bemühen – auch nur ansatzweise – nachzuvollziehen, was der Autor vorschlägt, muss ich feststellen, dass mein Weg zu einem guten Klang in der Milonga komplett anders aussieht.

Eine Einschränkung muss ich der Vollständigkeit halber vorweg erwähnen: Ich habe zwar mit PA-Lautsprechern (Tannoy Power V8, zum Teil mit Subwoofer Tannoy Power VS10 BP) gehört – aber nur bei Zimmerlautstärke daheim. Insofern steht der Test in der Milonga (mit erheblich höheren Pegeln) noch aus. Ich habe aus Zeitgründen keinen Doppel-Blindtest nach der ABX Idee durchführen können. Aus diesem Grund sind die Tests zwar für mich aufschlussreich gewesen, aber um es umfassend seriös und allgemeingültig feststellen zu können, müssten entsprechende Tests nachgeholt werden. Eine zweite Einschränkung: Ich besitze aus prinzipiellen Erwägungen keinen grafischen Equalizer. Deshalb wurden die Tests mit 3 verschiedenen digitalen parametrischen 4- bzw. 5-Band Equalizern durchgeführt. Dabei habe ich versucht, die im Artikel aufgezeigten Kurven durch entsprechende Einstellungen nachzubilden.


Zum Equalizing: Ich beschränke meine Ausführungen zu den Tests auf drei wesentliche Punkte in den Ausführungen zum EQing im Ursprungsartikel.

1. Die Bassanhebung bei 64Hz verbunden mit einem LowCut unterhalb von 32Hz. Mir ist es vollkommen rätselhaft, wie man derartig brachial die Bassfrequenzen anheben kann. Eine mögliche Erklärung wäre, die Herkunft des Autors aus dem Pop-/Rock-Genre zu vermuten. Es ist richtig: In der Frage der Wiedergabe von tiefen Frequenzen ist ein Großteil der am Markt befindlichen Restaurationen unbefriedigend: frühe Transfers aus den 90er bzw. 2000er Jahren leiden an einer chronischen Bass-Schwäche. Die Restaurationen von Keith Elshaw aus Kanada leiden am Gegenteil; einem unnatürlich aufgeblasenen Bass. Das Grundanliegen ist also zum Teil berechtigt. Aber so – wie es der Autor vorschlägt – geht es auch nicht. Zunächst fällt die „Brechstangen-Methodik“ zwischen 32 und 64Hz auf. Der Autor möchte ab ca. 32Hz abwärts alles wegfiltern, was ggf. an Laufgeräuschen in der Aufnahme steckt; isoliert betrachtet ein möglicherweise legitimes Anliegen. Danach möchte er allerdings bei ca. 64Hz eine vergleichsweise kräftige Anhebung um ca. 6 – 9 dB. Bei solch steilen Kurven bin ich aus prinzipiellen Überlegungen misstrauisch. Mit sehr brachialen Einstellungen haben vermutlich alle Equalizer große Schwierigkeiten (das ist elementare Physik). Vielleicht ist dieses Wegfiltern aller Frequenzen unterhalb von ca. 32Hz auch tatsächlich überflüssig. Möglicherweise wurde das ja schon beim Mastern des Tracks erledigt. Dann ist diese Einstellung am Equalizer überflüssig und bringt im ungünstigsten Fall nur eine zusätzliche Phasenverschiebung in das Frequenzspektrum.

2. Ein dezentes Absenken der Kurve bei 1KHz. Der Autor schlägt vor, den Frequenzbereich bei ca. 1kHz abzusenken, um Hall in den Aufnahmen zu bekämpfen. Ich habe versucht, seine Beobachtungen nach zu vollziehen. Es ist mir nicht gelungen. Für mich war nur feststellbar, dass sich eigentlich nur die Balance (auch bei schlechten Transfers) aus der Musik verabschiedete.

3. Ein massives Anheben des Frequenzgangs der Wiedergabekette bei 4kHz, bei gleichzeitigem Absenken des Pegels ab 8kHz. Wir haben auch an dieser Stelle ein weiteres massives Delta im Frequenzverlauf; weiter oben habe ich ausgeführt, warum ich aus prinzipiellen Erwägungen intuitiv zurückhaltend bin. Der Autor präsentiert eine Kurve für den Frequenzverlauf, in der er vorschlägt, die Frequenzen bei 4kHz substantiell anzuheben und in der unmittelbaren Nachbar-Oktave bei 8kHz deutlich abzusenken. Das halte ich aus grundlegenden physikalischen Überlegungen für eher bedenklich.

Insgesamt sehe ich das Konzept sehr kritisch. Zunächst ist evident, dass es kaum möglich sein wird, eine Einstellung zu finden, die für alle Restaurationen tritt. Die angegebene Unterscheidung zwischen dem Aufnahmezeitraum des Titels hilft überhaupt nicht weiter. Sie trägt der unterschiedlichen Güte der Transfers keinerlei Rechnung. Die in meinen Augen recht massive Betonung der Bässe und der drastische Pegelanstieg der Wiedergabe im Präsenzbereich (bei ca. 4 oder 5kHz) zerstören für meine Ohren ohne Not die Ausgewogenheit der alten Aufnahmen. Um aus der Fülle der Beispiele einen Titel herauszunehmen und meinen Eindruck mit diesen Einstellungen verbal zu beschreiben, bringe ich hier das Beispiel des Lomuto-Instrumentaltitels Sentimiento gaucho in der Version auf der Colección 78 RPM: Die Einstellungen bewirken ein dumpfes Wummern der Bässe und eine unangenehme Betonung der Pizzicato-Violinen. Dabei ist der Transfer bestimmt qualitativ nicht schlecht.

Bei dem Versuch, die Motivation für diese Manipulationen mit dem EQ zu ergründen komme ich nur auf die Idee, den alten Aufnahmen einen gleichsam modernen Klang zu verpassen. Ein solches Anliegen muss bereits von Anfang an zum Scheitern verurteilt sein.

Ich darf an dieser Stelle noch einmal den zentralen Satz des Masterings von Bob Katz zitieren: Changing anything effects everything. Genau diesen Satz hat der Autor der EQ- Anleitung offensichtlich leider nicht beherzigt.

Ich halte es für sehr gefährlich, wenn man diesen Ideen nicht entschlossen widerspricht. Es ist ein Irrglaube, wenn man meint, man könne mit einem kleinen grafischen Equalizer vermeintliche Fehler in der Aufnahme kompensieren. In einem weiteren Schritt sehe ich die durchaus große Gefahr, dass sich DJs nicht mehr um die bestmöglichen Restaurationen bemühen und Veranstalter nicht mehr auf der Suche nach den optimalen Lautsprechern an den bestmöglichen Positionen in der Milonga sind.


Zur Kompression: In einem 2. Artikel beschreibt der Autor seine Empfehlungen für den Einsatz eines Kompressors in der Milonga. Auch diese Vorschläge habe ich (so gut es ging) nachgehört. Ich habe zwei verschiedene digitale MultiBand Kompressoren genutzt und sie jeweils als Single-Band-Kompressoren (für das gesamte Frequenzspektrum) genutzt.

Auch an dieser Stelle muss ich vorweg einschränkend betonen, dass meine Versuche daheim bei Zimmerlautstärke (bzw. leicht darüber) gemacht wurden. Für eine letztendliche Beurteilung des Klangs in der Milonga müssten noch umfangreichere Tests in der Live-Situation gemacht werden.

Um meine Eindrücke beim Experimentieren vorwegnehmend einmal zusammenfassend zu beschreiben: Warum sollte nun im Tango ausgerechnet noch eine weitere Dynamikkompression (viele der „früh“ veröffentlichten Titel sind bereits heftig mit Dynamikkompression bearbeitet worden) eine Klangverbesserung ergeben? Das ist m.E. absurd. Man raubt der Musik (so jedenfalls mein Eindruck) viele Details und ein Großteil der subtilen Änderung der Lautstärke im Titel. Für schlechte Transfers (die bereits sowieso recht robust komprimiert wurden) richten die Ideen kaum weiteren Schaden an. Gute Transfers werden ihrer Transparenz beraubt. Warum?

Als Motivation für seine Eingriffe in die Dynamik der Wiedergabe benennt el espejero Lautstärkeprobleme mit nicht optimal platzierten Boxen (da würde ich an der Position der Lautsprecher etwas ändern), beginnenden Vibrationen, während man die Lautstärke erhöht (da gehen bei mir sämtliche Warnlampen an – wenn abgehängte Decken oder Bühnenteile zu vibrieren beginnen, dann ist man sowieso viel zu laut, bzw. die Anlage ist ungeeignet für den Raum) und schließlich inhaltlich: Man spielt eine Nummer von Biagi – hier verwendet der Autor das Attribut „airy“ – und der Titel geht in der allgemeinen Geräuschkulisse unter (wenn die Menschen in der Milonga zu laut sind, dann unterhalten sie sich entweder gut – und man ist gut beraten, diese Unterhaltungen jetzt nicht mit vergleichsweise rabiaten Methoden zu unterbrechen -, oder man hat es als DJ nicht geschafft, die Menschen in die Musik zu holen, mit der Musikauswahl Tänzerinnen und Tänzer zu fesseln – da hilft ein Kompressor auch nicht weiter).

Diese Probleme nun mit einem Dynamikkompressor beheben zu wollen ist m.E. der falsche Weg. Wie bereits geschrieben, gibt es für jedes der Problemfelder andere Lösungsmöglichkeiten. Insofern kann ich vor dem Einsatz von einem Kompressor nur eindringlich warnen.

Ich habe die vom Autor empfohlenen Einstellungen durchprobiert und keinerlei Verbesserung finden können – weder an den älteren problematischeren Transfers, noch an den neueren guten Transfers.

Wenn man den Ausgangslevel nicht exakt korrigiert, wird das Ergebnis einer Kompression zunächst immer spektakulärer klingen, weil es lauter ist. Das ist kaum zu ändern. Wenn man allerdings mit dem MakeUp-Gain diese Betonung kompensiert, wird deutlich, dass der Kompressor nur etwas von der Transparenz, der Luftigkeit und Lebendigkeit der Aufnahme schluckt. Mehr nicht.

Nur weil der Autor in einem Absatz explizit den Loudness War erwähnt, heisst es noch lange nicht, dass er nicht in genau diese Falle getappt ist. Mit dem eingangs erwähnten Szenario, dass aufgrund von Unterhaltungen die Musik nicht mehr (oder nur schlecht) hörbar ist und er gegensteuern möchte, befindet sich nach meiner Einschätzung der Autor bereits mitten in der Spirale, die in der Vergangenheit zu exzessiven Kompressionen und Lautstärke-Orgien geführt haben.


Erste Vermutungen

Wenn man sich aufmerksam anhört, was der Autor vorschlägt, TA der EdO mit Equalizer und Kompressor anzutun, stellt sich natürlich sofort die Frage was da schief gelaufen ist. Ich tippe auf eine ziemlich abenteuerliche Kombination aus unstatthaften Vereinfachungen bezüglich des Aufnahmeverfahrens von damals, brachiale Tonstudio-Rezepte aus dem heutigen Genre Pop plus DJ- und PA-Technik die mit TA der EdO heillos überfordert ist. Dies alles in Verbindung mit für TA der EdO inkompetenten Beratern. Auch das werde ich nachvollziehbar dokumentieren.

Warum der Autor die Sackgasse beschreitet, Rezepte aus dem Genre Pop über TA der EdO stülpen zu wollen, ist mir rätselhaft. Das wird immer auf der ganzen Linie scheitern. Es raubt TA der EdO den Atem und die Identität, die Seele und die Faszination. Das ist keine Frage des Geschmacks oder der Gefühle, der Ansichten oder Präferenzen sondern eine der Verhältnismässigkeit der einzusetzenden Werkzeuge in einem technischen Prozess, der physikalischen Gesetzen gehorcht und auf jahrzehntelanger Tonmeister-Kultur aufbaut. Das weiss kein Laie besser. Das weiss kein DJ besser. Das weiss kein Veranstalter besser. Das macht keine Software besser, geschweige denn ganz von allein. Das lässt sich nicht mit weniger Aufwand erreichen. Das lässt sich nicht quick and dirty lösen. Denn all das hört jeder, der Musik liebt und Ohren hat.

Dazu gesellt sich ein ästhetischer Aspekt: Manipulationen welche das Klangideal ihres Objekts mit Füssen treten, lassen immer eine Klangwüste zurück. Wenn man etwas nicht versteht und/oder nicht mag, kann man ihm unmöglich gerecht werden. Man kann im Leben nichts erfolgreich umarmen, was man eigentlich ablehnt und deshalb nicht wirklich kennt. Man kann höchstens so tun als ob. Und das muss misslingen – immer, mit Menschen genauso wie mit Musik.

Man kann darüber diskutieren, wie eine bestimmte Violine für eine bestimmte Partitur zu spielen ist. Denn dafür gibt es nicht nur eine richtige Spielweise. Da spielt auch Zeitgeist mit hinein. Und meist ist Zeitgeist auf dem Holzweg, weil dessen Pendelausschlag zu extrem ausfällt. Man kann darüber diskutieren, wie diese Violine für eine Tonkonserve aufzunehmen ist. Auch dafür gibt es nicht nur eine richtige Aufnahmetechnik – insbesondere falls die Raumakustik nicht optimal ist. Aber im Gegensatz zum ersten Fall ist im zweiten Fall kristallklar, wie diese Tonkonserve bei der Wiedergabe klingen soll: möglichst authentisch – so wie mit allen unverstärkt gespielten akustischen Instrumenten. Sonst verkommt die Konserve zur Karikatur. Damit das vermieden wird, muss sowohl bei der Aufnahme als auch bei der Wiedergabe eine ganze Menge berücksichtig werden. Dabei ist der Spielraum recht klein, sonst klingt die Konserve niemals auch nur annähernd wie das Original. Was sie sowieso nie tut: wie das Original klingen. Tonkonserven sind bestenfalls inspirierende Annäherungen an einen einmaligen, flüchtigen musikalischen Akt. Wie klein der technische und ästhetische Spielraum nicht nur beim Erstellen sondern auch beim Wiedergeben von Tonkonserven tatsächlich ist, können sich die meisten Laien nicht vorstellen. Weil sie sich nie die Mühe gemacht haben, ergebnisoffen abzuklären was Sache ist. Daher nehmen sie sich wie der Autor ein Mass an Freiheit heraus, welches sich bei genauerer Betrachtung als kontraproduktiv entpuppt.


Erste Horizonterweiterung – Teil 1
Als Schweizer geboren in Genf und lebend in Zürich war ich nicht Luther aber Calvin wie Zwingli Zeit meines Lebens schmerzlich ausgeliefert. Daher darf ich es mir erlauben, auf eine heute immer noch omnipräsente Sackgasse aufmerksam zu machen, welche nicht nur TA-DJs den Weg versperrt. Ohne genügend Musse, regelmässige Musse ist viel von dem was ich in dieser Replik an Entwicklungspotential thematisiere kaum realisierbar. Ich glaube nicht, dass meidet Rausch, Tanz und Spiel, das sind die Versuchungen des Teufels in ein glückliches Dasein münden.

Damit man als DJ weiss, wie akustische Instrumente klingen, muss man wenigstens gelegentlich Konzerte besuchen, bei denen solche Instrumente nicht elektrisch verstärkt werden. Sonst kann man keine Technik an Milongas richtig justieren, schon gar nicht einen Equalizer oder Kompressor. Weil dem Ohr die verlässliche, weil kürzlich erneuerte Referenz zur Orientierung fehlt. So ein Konzert bringt nur neue Erkenntnisse, wenn man nicht ausschliesslich mit dem Fokus eines Geniessers lauscht. Man sollte während der Vorstellung schon Vergleiche ziehen zu vertrauten Milonga-Setups, sich Gedanken darüber machen, warum zB hohe Töne im Konzertsaal nichts Aggressives oder zB tiefe Töne nichts Plumpes an sich haben, wieso jedes Detail gut zu hören ist, obwohl die Lautstärke moderat ausfällt, ob es irgendwelche Details gibt, die man als DJ für Milonga-Setups abkupfern kann. Nicht lamentieren und schwadronieren – machen.

Sinn macht das aber nur mit richtig guten Musikern und die finden sich in kontemporären Tango-Orchestern weltweit nirgends. Als Genre dafür bietet sich europäische klassische Musik mit nicht zu grossen Orchester-Formationen an. Es sollten, falls möglich, deutlich weniger als 20 Musiker sein, obwohl grössere Orchester es zur Not natürlich auch tun. Mit weniger als 20 Musikern ist der Lerneffekt für DJs im TA jedoch am nachhaltigsten. Aber eben, Schülerorchester reichen dafür genau so wenig wie Provinzformationen. Für das erste Mal eignet sich auch eine Veranstaltung für Konzertflügel solo. Die Konzentration auf ein einziges, dermassen mächtiges Instrument kann in einer allerersten solchen Begegnung lehrreich sein, weil dabei deutlich wird, welche Klangvielfalt sich bereits aus einem einzigen Instrument herauskitzeln lässt. Denn so ein Konzertflügel ist in vielerlei Hinsicht eine veritable Killer-Maschine. Manchmal ist es auch möglich, anstelle eines Konzerts Proben zu besuchen oder an einem Workshop für Musiker als stummer Gasthörer teilzunehmen. Solche Veranstaltungen sind oft preiswert und häufig kann man dabei als DJ besonders viel lernen. Nicht lamentieren und schwadronieren – machen.

Neben herausragenden Musikern braucht es für tolle Hörerlebnisse einen grossartig klingenden Konzertsaal. Wenigstens einmal im Jahr sollten DJs im TA in dieser Beziehung Kompromisse vermeiden und eine kleine musikalische Reise tun. Überraschenderweise finden sich unter den klanglich überzeugendsten Konzertsälen viele Häuser, die vor langer Zeit erbaut wurden.


Unten zeige ich einige der besten Konzertsäle, die in Mitteleuropa jederzeit eine Reise wert sind, wobei man kaum ignorieren kann, dass Wien seit langem die Musikhauptstadt Europas für Klassik ist. Das Angebot lässt jeden Nichtwiener vor Neid beinahe tagtäglich erblassen. Entscheidend sind aber nicht die optische Pracht oder ästhetische Schönheit eines Konzertsaals, sondern dessen akustische Qualitäten. Die wiederum sind nicht Geschmacksache. Das ist messbar. Und natürlich gibt es Konzertsäle mit schlechter Akustik, erschreckend viele sogar.

Replik_A06
Konzertsaal KKL – Luzern – eröffnet 1998. Bester Beweis dafür, dass sich heute exzellent klingende Konzertsäle realisieren lassen. Vorausgesetzt die Akustiker sind von Anfang an dabei und haben immer das letzte Wort. Alles andere wäre absurd.
Replik_A07
Goldener Saal Musikverein – Wien – eröffnet 1870. Ein musikalisches Kleinod.
Replik_A08
Concertgebouw Amsterdam grosser Saal – Amsterdam – eröffnet 1888.
Replik_A09
Gewandhaus – Leipzig – eröffnet 1977. Das dritte Gewandhaus ersetzte das 1884 eröffnete 2. Gewandhaus, welches im 2. Weltkrieg schwer beschädigt und 1968 abgerissen wurde. Die für seine exzellente Akustik bekannte Symphony Hall in Boston USA, eröffnet 1900, lehnt sich sehr eng an Gestaltung und Dimensionierung des für Europa leider für immer verlorenen 2. Gewandhauses an.
Replik_A10
Wiener Konzerthaus – Wien – eröffnet 1913. Ein musikalisches Kleinod.
Funkhaus Nalepastrasse Saal 1 – Berlin – eröffnet 1956. Ein Saal mit exzellenter Akustik, entstanden in der DDR und erst kürzlich endlich vor Zerstörung und Abbruch bewahrt.
Jesus-Christus-Kirche – Berlin-Dahlem – eröffnet 1932. Unter anderem dank seiner speziellen Dachkonstruktion einer der begehrtesten Räume in Europa für Klassikaufnahmen.

Diese Aufzählung ist alles andere als vollständig. Sie soll nur Ideengeber sein. Allerdings gibt es auch jede Menge schlechte Konzertsäle. So bietet zB die Berliner Philharmonie lediglich 30% Sitze mit guter Akustik, was ungenügend ist. Ob die bald eröffnende Elbphilharmonie in Hamburg akustisch enttäuschen oder begeistern wird, ist noch nicht klar. Akustiker streiten sich in diesen Monaten heftig darüber, ob auf Dauer überzeugen kann, was dort jetzt mit sehr viel Geld seiner Vollendung entgegen geht und bereits jetzt mit einem beispiellosen Mediengewitter hochgelobt wird. Noch ist nicht klar, ob dieser Saal einlösen wird, was seine Erbauer versprechen. Denn für einen Konzertsaal zählt nur eins: Raumakustik Raumakustik Raumakustik – und nicht das, was ein Konzertsaal optisch hermacht. Dasselbe gilt für den in Paris entstandenen Neubau, grösster Konzertsaal der Welt.

Philharmonie 1 de Paris – eröffnet 2015: Grösster Konzertsaal der Welt und als Weinberg akustisch alles andere als unproblematisch ist mit 2’400 Plätzen einem gewissen Gigantismus verpflichtet, was sich nur schwer mit akustischer Exzellenz paaren lässt.
Elbphilharmonie – Hamburg, wird 2016 eröffnet. Erst nach der Eröffnung wird sich mit der Zeit heraus stellen, ob die Akustik des grossen Weinberg-Saals hält, was ihre Erbauer längst versprochen haben.
Saal Pierre Boulez – Berlin, wird 2017 eröffnet. Noch ein Weinberg-Saal, allerdings kleiner, der demnächst seine Pforten öffnet, auf den bezüglich Akustik grosse Hoffnungen gesetzt werden.

Angesichts der vielen Konzertsäle, gross genug für ein Symphonieorchester, sollte man die vielen kleinen nicht vergessen, klein genug für Kammermusikdarbietungen, kleine Orchester oder Solisten. Auch hier gibt es grosse Unterschiede bezüglich der Qualität der Akustik dieser Säle und daher genug klanglich tolle, aber auch ganz viele klanglich völlig unbefriedigende Säle. Noch wissen wir nicht, ob zB der Saal Pierre Boulez in Berlin tatsächlich eine grosse Bereicherung sein wird. Natürlich werde ich nach Berlin reisen, damit meine Ohren sich selbst ein Bild machen können.


Erste Horizonterweiterung – Ergänzung

am 24. April 2017 nachträglich eingefügt

Seit Jahren geht die Entwicklung in die falsche Richtung, werden immer mehr Weinberge und kaum noch Schuhschachteln realisiert. Bereit im Vorfeld der Eröffnung gab es bezüglich der Akustik der Elbphilharmonie äussert kritische Stimmen, die auf Grund einiger Kennzahlen davon ausgingen, dass dieser Konzertsaal klanglich enttäuschen muss. Es hiess, Toyotas Konzept sei von Anfang an ausgesprochen mutig oder töricht – je nach Erwartungshaltung. Inzwischen haben einige Musiker mit dem Saal Erfahrungen machen dürfen. Wer sich jetzt kritisch äussert, tut das auf Grund praktischer Erfahrungen. Und nicht alle Musikern wagen es nicht auszusprechen, was sie im Raum akustisch erlebt haben.

Wo Rauch ist, da findet sich meist auch irgendwo Feuer. Man muss nur genau hinschauen, respektive hören. Der Artikel spricht aus, was zu befürchten war, obwohl es für eine endgültige Einschätzung noch zu früh ist.

Es kann und darf nicht sein, dass ein Konzertsaal Orchester dazu zwingt, auf extreme Weise zu musizieren, um einen einigermassen erfreulichen Orchesterklang zu erzielen. Also falsch zu spielen, damit der Klang bei den Hörern richtig ankommt. So etwas ist absurd – ganz besonders angesichts der Kosten für die Höllenmaschine Elbphilharmonie. Schade, dass erstklassige Orchester nicht die Zivilcourage besitzen, sich zu weigern in so einem Saal zu musizieren. Denn das würde solche Probleme innerhalb eines Jahrzehnt rund um den Erdball für alle Zeiten lösen.

In der Elbphilharmonie steht die akustische Welt in einem Ausmass Kopf, welches sich durch massvolle bauliche Korrekturen nicht beheben lässt. Davon darf man inzwischen ausgehen. Dass es zwei Jahre dauert, bis die Betreiber eines neuen Saal letzte Feinheiten im Griff haben, ist normal. Aber diesen Saal so zu bauen war verantwortungslos. Dafür müsste man Toyota haftbar machen. Aber dafür fehlt ein entsprechender Vertrag. Das bauen guter Konzertsäle ist keine schwarz Magie. Wer nicht weiss wie das geht, unternimmt eine Reise nach Berlin und kupfert das vom grossen Saal an der Nalepastrasse ab – allenfalls mit massvoll veränderten Dimensionen plus entsprechender Neuberechnung. Das kostet dann auch nicht alle Welt und funktioniert.

Nicht die Musiker sind für die Konzertsäle egomanischer Architekten und Akustiker da. Die Fachidioten hinter Entwicklung und Bau dieses Konzertsaals wollten um jeden Preis Spektakuläres schaffen. Dafür bezahlt die Musikwelt in diesem Fall einen exorbitanten Preis – über viele Jahrzehnte hinweg. Architekten und Akustiker haben Konzertsäle zu realisieren, welche es Musiker erleichtern anstatt erschweren, tolle musikalische Erlebnisse zu bieten. Wer dazu nicht in der Lage ist, soll Ausflugsdampfer entwerfen. Das gilt für Herzog und De Meuron genauso wie für Toyota.

Wie spektakulär ein Konzertsaal aussieht, muss wieder zweitrangig werden. Zählen darf einzig, wie so ein hoch spezialisierter, verflixt teurer Raum klingt. Damit so etwas simples möglich wird, muss man Politikern und Fehlentscheidungsträgern des Wirtschaftslebens endlich die Möglichkeit nehmen, in diesem Bereich das Sagen zu haben. Weil das weder musisch noch intellektuell begabte Menschen sind, eher Machtteilchen, die Poesie für einen Schokoriegel halten. Daran ändert auch eine Ausnahme wie der Abenteurer Malraux nichts. Der bestätigt lediglich diese Regel.

Das Paradebeispiel eines seit Jahrzehnten geschätzten Opernhauses: äusserlich visuell eine Augenweide, aber innerlich und damit in Bezug auf seine eigentlich Funktion, einzige Existenzberechtigung akustisch seit Eröffnung eine gigantische Katastrophe: für Musiker wie Hörer.

Wer davon ausgeht, dass ich übertreibe wird im Artikel oben einen Einstieg in eine realistische Einschätzung der ganzen Thematik finden. Wenn ein Konzertsaal seine eigentliche Aufgabe kaum oder gar nicht zu bewältigen vermag, ist es egal wie grossartig er optisch daherkommt. Dann ist so ein Projekt auf der ganzen Linie gescheitert. Dann wäre es angemessen so eine Musikleiche entweder im innern völlig neu zu bauen oder zu sprengen, um Platz zu machen für eine funktionierende Lösung.


Erste Horizonterweiterung – Teil 2

Ich kann jedem Macher im TA – also Veranstaltern genauso wie DJs – nur empfehlen, sich diese Freude im richtigen Konzertsaal gelegentlich selbst zu schenken. So eine Reise macht jedem Menschen klar, der nicht vollkommen verstockt durch das Leben stakst, was mit Musik möglich ist und wie akustische Instrumente tatsächlich klingen. Das wiederum öffnet bereits mit wenig Fantasie auch Türen im TA, weil ganz von allein Ideen und Wünsche auftauchen, die es wert sind verwirklicht zu werden. Denn da geht mehr als nur noch was, im TA mit Musik der EdO.

Wer sich eine Wonne dieser Dimension noch nie selbst geschenkt hat, dem empfehle ich, keine halben Sachen zu machen, indem er den nächstbesten Konzertsaal besucht, sondern tatsächlich einen der Säle oben zu wählen und dort ein Ticket der besten Kategorie zu kaufen. Das Ticket kostet vielleicht 100 oder 200 Euro, die aber bestens investiert sind, trotz zusätzlicher Reise- und Aufenthaltskosten. Daher nochmals: Nicht lamentieren und schwadronieren – machen, nicht nur einmal. Denn erst hinterher kann man mitreden. Weil der Raum das Kleid der Musik ist.


Replik_A11a
Natürlich ist auch in der Klassik nicht alles Gold was glänzt. Geiger Kremer ist zu Recht der Ansicht, dass Persönlichkeiten unter Künstlern heutzutage viel seltener sind als Menschen ohne Mobiltelefon. Wirklich lesenswertes Buch (unten): Einmal fallen die Namen des ehemals erfolgreichen Zwiegespanns Netrebko/Villazòn und des Pianisten Lang Lang als Symbole für eine Krankheit, die uns alle angreift und unmerklich vergiftet. Und die Parallelen zur klitzekleinen Welt der TA-DJs sind frappant, deprimierend eigentlich. Aber Aufgeben gilt nicht, denn dazu gibt es Alternativen.

Die von Kremer benannte Falschmünzerei des heute gnadenlos kommerzialisierten Musikbetriebs haben aber nicht die Kreativen verbockt. Seitdem bei grossen Plattenlabeln nach unzähligen Fusionen auf Teufel komm raus und zurück nur noch Finanzberater, die von Musik und Musikern weniger als Nullkommanichts verstehen, die Unternehmenspolitik festlegen, anstatt Musikliebhaber oder Audiotechniker mit einem Faible für Musik, wie das bis in die 90er-Jahre hinein üblich war, wird im Genre E mit den selben destruktiven Konzepten kutschiert, mit denen im Genre U seit Jahrzehnten für nachhaltigen Verschleiss an Musikern gesorgt wird: Junge Talente werden sofort auf den Markt geworfen und in wenigen Jahren verheizt, anstatt sie über ein Jahrzehnt hinweg umsichtig aufzubauen, damit sie dem Markt vielleicht langfristig gewachsen sein werden.

Zudem werden jede Menge musikalisch-künstlerische Nullen mittels Marketing zu Umsatzmaschinen hochstilisiert. Aber nur für wenige Jahre. Manche asiatische Länder betreiben dieses lukrative Exportgeschäft fabrikmässig. Und wenn so eine unkreative, uninspirierte Seifenblase nach kurzer Zeit platzt, weil sie beim Publikum Langeweile und Gleichgültigkeit auslöst und der Klassik damit Schaden zufügt, warten vor der Tür jedes Labels Dutzende neuer Musikroboter darauf, ohne Rücksicht auf Verluste und bar jeglicher Persönlichkeit selbstmörderisch in die frei gewordene Honigfalle zu hüpfen.

Sehr viel mehr als früher ist man in der Klassik daher seit rund 15 Jahren dazu gezwungen, zeitgenössische Interpreten kritisch zu sichten, indem man deren Leistung oder das Fehlen derselben kritisch vergleicht mit den in ausreichendem Mass auf Konserve vorhandenen Jahrhunderteinspielungen entsprechender Werke der letzten 85 Jahre. Bei solchen Vergleichen müssen die Augen allerdings völlig entmachtet sein, damit sie den Ohren nichts vorlügen können. Dazu später mehr. Abseits von destruktivem, schlussendlich buchstäblich kannibalischem Business für stocktaube Gaffer gibt es in der Klassik aber auch jede Menge Erfreuliches zu entdecken. Man muss nur genau hinschauen. Ich habe dieses Jahr zB einen mehrtägigen Masterclass-Workshop für Dirigenten als stiller Gasthörer vollkommen fasziniert verfolgt. Ja, da gab es unfertige und auch schlechte junge Dirigenten. Da gab es aber auch ausgezeichnete junge Dirigenten. Es wird spannend sein zu verfolgen, welcher von diesen Männern – Frauen sind auch in diesem Metier leider immer noch die Ausnahme – seinen Weg finden und als Dirigent zu einer gereiften Persönlichkeit werden wird.

Eine weitere Stellungnahme eines Insiders mit profunden Fähigkeiten und beeindruckendem Leistungsausweis. Der pessimistische Grundton hat gute Gründe, welche nur Kenner der Materie nachvollziehen können. Sie sollten jeden Musikliebhaber nachdenklich stimmen. Denn in der Klassik feiert längst die selbe Epidemie Feste, wie im TA: social vanity, die Sucht ein Star, im TA ein Starlet zu sein – oder wenigstens ein lächerlicher Abklatsch davon. Und sei es nur für fünf Minuten.

Die Tätigkeit eine DJs im TA zu sehr an die eines Musikers mit akustischem Instruments anzulehnen, ist aus vielerlei Gründen problematisch, weil deren Zielsetzungen vollkommen unterschiedlich sind. Trotzdem gibt es eine ganze Reihe entsprechender Aspekte, deren Berücksichtigung DJs reifen lässt. Zentrales Element dabei ist die jahrelange, regelmässige, Beschäftigung mit den Aufnahmen der EdO. In diesem Punkt sind die Parallelen zu Musikern unübersehbar, weil gekonnte Sponaneität anstelle von Spontaneität um jeden Preis dieses langen Vorlaufs bedarf.

Wer sich die Mühe macht, das Buch von Kremer tatsächlich zu lesen, wird andererseits entdecken, dass die Parallelen zu TA-DJs frappant vielfältig sind – mit ein klein wenig über die Zusammenhänge nachdenken. Als TA-DJ wird man das Niveau eines Laien nur hinter sich lassen, falls man bereit ist, NICHT den Weg geringsten Widerstands zu gehen. Es geht darum vanity hunting zu vermeiden.

Auf diesem manchmal einsamen Weg besteht das eigentliche Kunststück darin, sich NIEMALS zur Ware und damit manipulierbar machen zu lassen. Eine Ware, die dann wie es so treffend heisst, weg geht wie warme Semmeln. Mag sein, dass man als TA-DJ zur heissen Semmel pervertiert recht erfolgreich ist, regelmässig gebucht wird und sich irgendwann meint einbilden zu dürfen, wichtig und wer zu sein. Aber solche Kartenhäuser fallen nach wenigen Jahren in sich zusammen. Dazu ist TA der EdO, die eigentliche Anforderung hinter dem Thema ein zu kapriziöses, forderndes Gebilde.

replik_a50
Serkin ist lediglich einer von unzähligen Musikern die begriffen haben, dass Spontaneität und Können in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen, bei dem Zeit eine zentrale Rolle spielt.

Die Mär der mehr schlecht als recht musizierenden Instrumentalisten im TA der EdO ist lächerlich. Spätestens ab 1935 arbeiteten für wegweisende Gran Orquestas in BA – und zu Aufnahmen dieser Formationen tanzen wir heute an guten traditionellen Milongas vorwiegend – nur noch Musiker mit Konservatoriums-Abschluss oder einer gleichwertigen Ausbildung bei Privatlehrern. Einige Ausnahmen gab es natürlich, Autodidakten wie Troilo zB, der sich dasselbe Musizierniveau ohne richtige Ausbildung erarbeitete.

Geiger Francini, der bei Calo die erste Geige spielte und mit Pontier, der bei Calo das zweite Bandoneon spielte, ein eigenes Orchester gründete, ist ein exemplarisches Beispiel für das spieltechnische Niveau der Musikergeneration der 40er-Jahre im TA der EdO. Das Orchester des Teatro Colon – die beste Klassikformation am Platz – hat ihm des öfteren den Part der ersten Geige anvertraut, falls Francini dafür Zeit und Musse fand. Francini spielte auf dem Niveau der Virtuosen seiner Zeit wie Menuhin, Stern und Oistrach, Heifetz, Grumiaux und Szeryng.

Trotzdem hat TA ein eigenes, nicht akademisches Klangideal, auch meilenweit entfernt von dem, was Piazzolla und Konsorten nach dem Ende der EdO für einen konzertanten und daher für die Masse der Tänzer nicht mehr tanzbaren Tango angestrebt haben. Eigenartigerweise ignorieren nach wie vor viele tanzende Piazzolla-Liebhaber zentralste Aussagen ihres Idols, die an Deutlichkeit nicht zu überbieten sind, wie zB: Es gibt Tangos zum Tanzen und Tangos zum Hören. Die Instrumentalisten der gran orquestas der EdO spielen allerdings nicht korrekt in akademischem Sinn. TA der EdO ist Tanzmusik. Und Tanzmusik hat nicht nur tanzbar zu sein. Sie soll auch Lust darauf machen, dazu zu tanzen, nicht unähnlich dem Swing im Jazz.

In diesem Aspekt hat es während der EdO einen Konsens darüber gegeben, wie zu musizieren ist. Diese Eigenheiten finden sind nicht in den Arrangements dieser Aufnahmen. Das wurde nirgends schriftlich festgehalten. Darüber gab es einen stillschweigenden Konsens unter diesen Kreativen. Wer sich dieses Wissen nicht erarbeitet hatte und makellos umzusetzen vermochte, bekam gar nie einen Job bei einer der führenden Formationen der EdO.

Wer diese Zusammenhänge heute nicht nachzuvollziehen vermag, könnte auf die irrige Idee kommen zu behaupten, dass heute präziser und besser musiziert wird als damals. Dem ist aber nicht so – im Gegenteil, zumindest im TA. So ist zB ein kleiner Versatz zwischen den Geigen oder Bandoneons, die dieselbe Stimme unisono spielen, gewollt, damit der Klang reicher, farbiger, fetter daher kommt. Wie sehr solche Eigenheiten die Wirkung dieser Aufnahmen bereichert und Tänzer beflügelt, wird aber erst auf gut gemachten Restaurationen hörbar. Daher rauben schlechte Restaurationen den Aufnahmen der EdO ihre Identität.


Replik_A12
Interview mit einem Akustiker, der Konzertsäle konzipiert.
Replik_A13
Weinberg oder Schuhschachtel: Mit beiden Raumformen lassen sich Konzertsäle realisieren. Aber Weinberge mit einer guten Akustik zu realisiert ist um ein Vielfaches schwieriger und hat Grenzen, mit denen Schuhschachteln sich nicht herum schlagen müssen.

Die Tendenz der letzten Jahre vermehrt Weinberge anstatt Schuhschachteln zu realisieren – zB in Paris, Hamburg, Berlin – ist problematisch, weil in ihrer ganzen Konsequenz nicht durchdacht. Diese Entscheidungen sind das Resultat einer immer grösser werdenden Dominanz des visuellen Aspekts im heutigen Konzertbetrieb. Aber für exzellente Konzertsäle müssten sich visuelle Aspekte auditiven immer völlig unterordnen. Alles andere wäre absurd. Das ist wie bei Lautsprechern: sämtliche visuellen Aspekten geschuldete Eigenschaften tragen nullkommanichts zur Bewältigung der eigentlichen Aufgabe bei, die vollumfänglich gelöst sein muss, BEVOR optische Aspekte berücksichtigt werden. Sonst wird das nie was Gescheites.

Weinberge führen tendenziell zu einem vordergründigeren und damit im ersten Moment spektakuläreren aber auf Dauer ermüdenderen Klang, weil in Weinbergen der Direktschall übertrieben dominant ist. Das systemimmanent, dem Konzept geschuldet unabwendbar und nur teilweise mit viel Aufwand kompensierbar. Das allein wäre schon Grund genug, keine Weinberge zu bauen. Aber da lauern noch weitere akustische Stolpersteine.

Weil das Abstrahlverhalten eines jeden akustischen Instruments nicht in seinen Grundzügen verändert werden kann, lässt sich mit raumakustischen Massnahmen zB nicht kompensieren, dass ein Cello nach hinten sehr viel weniger Schallenergie abstrahlt als nach vorne und deshalb von dort vollkommen anders klingt. Zudem blockiert die Abstrahlung nach hinten von hinten betrachtet der Körper des Musikers und sein Stuhl zusätzlich. Daher gibt es in Weinbergen für Zuschauer die hinter manchen Instrumenten und deren Musikern sitzen keine klanglich befriedigende Lösung. Das Klangbild des Orchesters gerät ausser Balance, wenn manche Instrumente oder Instrumentengruppen auf Grund der Position von Musikern zu machen Zuschauern für diese verzerrt wird. Resultat können zB Kontrabässe die in Relation zum Rest des Orchesters zu leise sind und dumpf klingen und erste Geigen, die in Relation zum Rest des Orchesters zu laut sind und schrill klingen. Solche dem Konzertsaal geschuldete, gar nicht so musizierte Veränderungen sind aber nicht das was der Dirigent hört und torpedieren die vom Komponisten in der Partitur festgeschriebenen musikalischen Zusammenhänge. Im Genre Pop kann man mit solchen Raumeigenschaften spielerisch umgehen. Im komplex codierten Genre europäsiche Klassik muss so ein Ansatz misslingen.

Diese weinbergimmanenten, von Künstlern niemals gewollten und so von ihnen beim Musizieren auch nicht gehörten Interpretationsverzerrungen für einen Teil der Zuhörer sind banaler Physik geschuldet. Es sind Absurditäten eines nicht zu Ende gedachten Konzepts. Die Kompensation solcher konzeptionell bedingter Eigenheiten ist in Weinbergen nur zu einem Bruchteil mittels baulicher und technischer Massnahmen möglich. Warum in diesem Jahrzehnt so viele neue Weinberg den Betrieb aufnehmen ist unverständlich und eine Fehlentwicklung, welche die Mehrheit unserer Gesellschaft vermutlich ersten in zweidrei Jahrzehnten durchschauen wird. Dass das auch völlig anders geht, beweisen klanglich herausragende Schuhschachteln neue wie das KKL in Luzern, dem niemand vorwerfen kann, hier würde akustische Exzellenz mit visueller Hässlichkeit bezahlt.

Wer mehr zum Thema Instrumente und ihre Abstrahlung wissen will, findet in diesem Buch viele Antworten.

Auch wenn diese Artikel nicht weltbewegend sind, vermitteln sie trotzdem eine ganze Reihe grundlegender Erkenntnisse.

Falsche Frage falscher Fokus

Wer über meine Vorbemerkung zu Konzert- oder Probenbesuchen den Kopf schüttelt, stellt sich vermutlich die Frage was für ein Zusammenhang zwischen TA der EdO und europäischer klassischer Musik, den für Klassikdarbietungen hochspezialisierten Konzerträumen bestehen soll, und damit die Frage, warum DJs oder Veranstalter im TA sich damit beschäftigen sollen. Ein Horizont der diese Frage aufwirft greift zu kurz, weil das eine Frage der Herkunft ist. TA der EdO hat seine Wurzeln in der europäischen, insbesondere alpenländischen und süditalienischen, aber auch der jiddischen Volksmusik. Damit wird die intensive Vernetzung zwischen Volksmusik, klassischer Musik und TA der EdO offensichtlich. Weil die klassische europäische Musik sich aus der europäischen Volks- und Kirchenmusik entwickelt hat und TA der EdO aus diesem Fundus jede Menge abgekupfert hat.

TA der EdO, insbesondere jene decareanischer Ausprägung und damit Laurenz wie Troilo, di Sarli (obwohl kein Decareaner) wie Pugliese, Demare wie Calo und selbstredend die Brüder de Caro, um nur einige zu nennen, wäre ohne europäische klassische Musik niemals entstanden. Aber auch der TA des erdig und populär musizierenden Francisco Canaro, spätestens seit dem Start seiner Serie Sinfonica (1929/33), wäre ohne europäische klassische Musik nie zustande gekommen. Wenn man genau hinhört, entdeckt man, dass die Interpretationen keines gran orquesta der EdO ab 1933 denkbar wäre ohne die omnipräsente Inspirationsquelle Kompositionsinstrumentarium europäische klassische Musik.

Natürlich ist das nur die eine Hälfte der Inspiration. Beim TA gesellt sich dazu eine starke hispanisch(arabisch?)-afrikanisch-karibisch-indigene Komponente, sowohl im Umgang mit Rhythmen als auch betreffend Spielweise. Insbesondere in den 10er- und 20er-Jahren haben rund ein Dutzend federführender Musiker afrikanischer oder indigener Abstammung die Entwicklung von TA in BA wie Montevideo stilbildend mitgeprägt und damit ganz viel für immer in den Genen des TA verwurzelt. Ausserdem war TA während der EdO nicht mehr Subkultur sondern Hochkultur. Wobei ich das Wort Subkultur keinesfalls wertend verstanden haben möchte. Im TA hat der Kompetenztransfer von unten nach oben stattgefunden anstatt wie häufig von oben nach unten. Wie man aus einer musikalischen Hochkultur interpretatorisch wie klanglich ein Maximum heraus holen kann, lässt sich zwecks Abkupfern für TA der EdO nirgends besser beobachten als am Beispiel europäischer klassischer Musik. Damit sollte klar sein, warum sich eine intensive Beschäftigung mit der klassischen Musik Europas und ihrer Aufführungspraxis bestens dafür eignet, die Wiedergabe von TA-Konserven zu beflügeln, aber auch um das Verständnis für die eine, die nördliche Hälfte der inneren Strukturen von EdO-Kompositionen und -Interpretationen zu vermitteln, was für musikalisches Tanzen unabdingbar ist.


Sprung ins kalte Wasser

Wer weiss, wie begehrt für Klassik angemessen klingende Räume für das Musizieren mit akustischen Instrumenten für Aufnahmen wie Live-Darbietungen sind, der weiss auch, was die Wiedergabeprobleme im TA mit Musik der EdO verursacht. Seit Jahrzehnten pilgern in der europäischen klassischen Musik exzellente Orchester für Aufnahmen in die immer selben Räume. Über diesen zentralen Aspekt haben sich viele DJs und Veranstalter im TA nie Gedanken gemacht und über vorhandene PA-Technik häufig genau so wenig, obwohl beides in jeder Hinsicht erfolgsentscheidend ist. Daher klingt es an vielen Milongas so verkehrt und verdreht. Natürlich ist das auch eine Frage von Kompetenz und Energie, Zeit und Geld – aber eben nicht nur. Ein intelligenter, konstruktiver, aktiver Umgang mit diesen Aspekten führt zügig zu nachhaltigen Verbesserungen, die Tänzer ungemein entzücken. Eigentlich ist die Situation 2015 absurd. Tanz im Sinn von social dance bedingt Musik zwecks tänzerischer Interpretation. Also hat eine angemessene Wiedergabe solcher Konserven hohe Priorität. Alles andere wäre der nackte Wahnsinn. Womit wir zurück gekehrt sind zur aktuellen Situation im TA mit Musik der EdO, die Thema dieser Replik ist.

Was kann man als DJ oder Veranstalter tun und wie lernt man in diesen Dingen schnell dazu? Das Ganze beginnt damit, dass man im Umgang mit TA der EdO einzig die europäische klassische Musik mit kleinen Formationen oder Jazz mit akustischen Instrumenten als Richtschnur nehmen kann, aber nicht Pop und vor allem nicht Pop der letzten 25 Jahre. Das ist keine Wertung bezüglich künstlerischem Wert, sondern eine Frage des angemessenen Klangideals und damit nicht Ansichtssache. Wer das nicht nachvollziehen kann, wird mit TA der EdO immer scheitern. Ein Würfel kann ein rundes Loch niemals ausfüllen. DJs und Veranstalter die sich die Mühe machen aus dem Buch Die Welt des Klangs von Burkowitz alles herauszuziehen, zu erlernen und anzuwenden, was er zum Thema Tonmeisterkultur und Raumakustik skizziert, werden eine spannende Welt entdecken, in die es sich für TA der EdO lohnt einzutauchen.

Anschliessend empfehle ich, ein Gespräch mit einem guten Akustiker zu suchen. Wenn man ehrlich auf solche Profis zugeht und sie zu einem Gespräch mit Kaffee und Kuchen oder einem Aperitif in einer ruhigen Bar einlädt, werden manche dieser Profis für einmal gerne wertvolle Tips für lau herausrücken. Man darf es einfach nicht übertreiben mit dem Ausquetschen. Und wenn man schlau ist, lädt man so einen Fachmann einige Monate später an seine Milonga ein. Mit dem Angebot zu zeigen, was man umzusetzen vermocht hat. Daraus ergibt sich vielleicht ein weiteres Gespräch. Mag sein, dass so ein Anschlussgespräch dann mit € 100 honoriert werden muss. Aber das lohnt sich alleweil. Dann weiss man nämlich, wo man steht und was die nächsten Schritte sein sollen. Vorausgesetzt man verpflichtet sein Gegenüber ausdrücklich zu schonungsloser Ehrlichkeit. Wer nicht damit umgehen kann, dass sein Tun womöglich in der Luft zerrissen wird, kann sich das Ganze sparen.

All das ist zusätzliche Arbeit. Sie wird aber dadurch kompensiert, dass man fähig wird, akustisch gute von akustisch schlechten Räumen wenigstens im Ansatz zu unterscheiden und so bereits mittelfristig an Milongas vor Ort mit weniger Problemen konfrontiert wird, weil man als Veranstalter bessere Räume buchen wird und als DJ in einem schlechten Raum erkennen kann, was verbessert werden kann und womit man irgendwie leben muss – oder sich für diesen Raum nicht mehr buchen lassen darf.


Ein Türöffner

Replik_A14

Replik_A14a
Dieses Buch vermittelt einen guten Überblick darüber was zu leisten ist, damit Tonkonserven Konsumenten zu verzaubern vermögen und damit betrifft es im TA mit Musik der EdO jeden DJ und Veranstalter, der den Anspruch hat zu wissen was er tut. Neben der deutschen Ausgabe gibt es eine englische plus eine zweisprachige deutsch/englisch in einem Band.

Schlüsselfaktor Klangideal

Zum Abschluss der Vorbemerkungen äussere ich mich zu einem Thema, welches uns in dieser Replik immer wieder beschäftigen wird und zu dem es wie zu so vielem im Zusammenhang mit TA der EdO nur beschränkt unterschiedliche Ansichten geben kann, höchstens Verständnis oder Ignoranz in Bezug auf Gesetzmässigkeiten, die sich nicht verbiegen lassen, bis sie abstrusen Vorstellungen von Laien entsprechen. Über diese Dinge herrscht unter Tonmeistern ein stillschweigend praktizierter Konsens, über den keine Sekunde nachgedacht wird. Sonst könnten die ihre Tätigkeit gar nicht verrichten. Es geht um das Thema angemessenes Klangideal bei der Wiedergabe von EdO-Konserven. Ausserdem sind beim mittelbaren Hören (Konserve) Aspekte zu berücksichtigen, die beim unmittelbaren Hören (live) keine oder eine geringere Rolle spielen. Ich bin ziemlich sicher, dass die meisten DJs und Veranstalter sich auch darüber noch nie Gedanken gemacht haben. Sollten sie aber. Die dabei zu berücksichtigenden Aspekte sind seit Jahrzehnten erforscht und bekannt, und sie zu berücksichtigen ist keine Hexerei.

Die Wiedergabe von Konserven akustischer Instrumente, aber auch menschlicher Stimmen steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Aufnahmeraum. Diese Wechselwirkung ist intensiv und komplex. Wenn alles richtig gemacht wurde (Aufnahme) und wird (Wiedergabe), entsteht am Ende eine faszinierende akustische Körperhaftigkeit, die uns Menschen so sehr berührt, dass uns ein kalter Schauer über den Rücken läuft und wir Gänsehaut bekommen. Das sollte auch an Milongas gegeben sein. Dazu muss 2016 einiges angepackt und verbessert werden, was momentan schief läuft, weil es dem Zufall überlassen aus dem Ruder gelaufen ist. Dann schwimmt die Musik nicht mehr wie jetzt diffus im Raum, hat nicht länger weder Fundament noch Kontur und kann wieder atmen, weil sie für Tänzer fassbar wird, weil die Musik durchhörbar wird, da uns Tänzern kein klärschlammartiger, mausgrauer Klangmulm mehr verabreicht wird.

Wenn wir in der Frage des passenden Klangideals für TA der EdO vermeintliche Reizbegriffe wie Klassik oder Pop beiseite lassen, wird vielleicht klarer, wo wir für TA der EdO das Klangideal zu verorten haben. Dazu müssen wir zeitgeistige Vorstellungen beiseite lassen, weil TA der EdO Musik von vorvorgestern ist. Falls wir dem nicht Rechnung tragen, werden wir mit TA der EdO immer scheitern. Darüber kann man das Klangideal von heute nicht stülpen, ohne TA der EdO zu massakrieren. Überspitzt formuliert lässt sich sagen, dass früher bei Konserven auf das Fundament der Musik besonderer Wert gelegt wurde. Vielleicht manchmal sogar ein ganz klein wenig zu viel Wert. Obwohl ich das anders sehe. Das ist bei mittelbarer Musik essentiell. Heute wird dagegen auf die Kontur der Musik besonderer Wert gelegt. In einem inzwischen ungesunden Ausmass. Das ist längst offensichtlich. Ohne solides Fundament hört sich Musik nie natürlich an. Daher ist Fundament Voraussetzung – ganz besonders für Konserven akustischer Instrumente und guter Stimmen. Wer sich unter dem Wort Fundament in diesem Zusammenhang nichts vorstellen kann, kann es statt dessen mit dem Wort Substanz versuchen. Vielleicht hilft das weiter. Handwerklich richtig gemacht, ist es trotz angemessenem Fundament möglich, Musik so viel Kontur zu verleihen, dass für jeden Menschen von heute ohne Hörschaden Faszination aufkommt. Konzentriert man sich beim Erstellen oder Wiedergeben von Tonkonserven nur auf einen dieser beiden Aspekte, wie das im Pop seit längerem üblich ist, kommt dabei nichts heraus, was einen musikaffinen Menschen zutiefst berühren könnte. Aber aufgepasst: Mit TA der EdO ist ein Bassgewitter kein solides Fundament, sondern grober Unfug. Pompös und TA der EdO vertragen sich gar nicht.

Jeder Mensch hat eine, seine eigene, Hörkurve mit individuellen Schwächen. Das sind Unausgewogenheiten des Hörens in bei jedem Menschen anderen Bereichen des Frequenzgangs. Dort ist die Wahrnehmung getrübt, unscharf. Auch jeder Professional hat solche Schwächen. Aber der optimiert seine Hörkurve über Jahre hinweg, bevor er zB als Tonmeister zum Könner werden kann. Erst nachdem die eigene Hörkurve weitgehend optimiert wurde, kann das gelingen. Das gilt auch für jeden Musiker oder Sänger. Defizite der eigenen Hörkurve führen immer zu entsprechenden Defiziten beim Musizieren, Singen oder Tonmeistern. Weil man dort nicht präzis und detailliert genug hört was man tut, gerät man auf Abwege. Für einen Tänzer ist das hinnehmbar, weil er damit in erster Linie sich und seinen Tanzpartner beeinträchtigt. Für einen TA-Veranstalter oder -DJ ist das nicht hinnehmbar, weil er damit sein ganze Tänzerschar dauerhaft beeinträchtigt und sein Problem so multipliziert.


Eins der fünf wichtigsten Dokumente dieser Replik: 

Eigenartigerweise werden die von Burkowitz in diesem Artikel dargestellten Überlegungen nie in einem breiten Umfeld diskutiert.

Zu verstehen, was Burkowitz in diesem ersten von vier elementaren Artikeln technischer Natur erklärt, macht es einem EdO-Liebhaber erst möglich, mit den Jahren in technischen Belangen zu einem guten TA-DJ zu werden. Im Prinzip gilt das für jeden Musikliebhaber, dessen musikalischer Konservenhorizont grosser ist als von AC/DC zu Helene Fischer. TA-DJs können erst einen den Inhalten angemessenen Hörgenuss bieten, Musikliebhaber erst einen den Inhalten angemessenen Hörgenuss finden, nachdem sie nicht nur verstanden haben, was Burkowitz erklärt, sondern hinterher auch beginnen, das in der Praxis anzuwenden.

Das gilt wie gesagt für alle vier als wichtigste Dokumente ausgezeichnete Links und PDFs dieser Replik – von denen drei bisher noch nicht vorgestellt wurden. Völlig erfassen lassen sie sich alle erst nach mehrmaliger Lektüre plus dem darüber sinnieren was für Konsequenzen sich aus diesen Erkenntnissen in der Praxis ergeben. Auf Grund von Zusammenhängen sind zudem drei dieser vier Dokumente erst in ihrer ganzen Tragweite erfassbar, nachdem alle drei einzeln verarbeitet und verstanden wurden. Das bleibt ein mehrstufiger Prozess, dafür gibt es keine Schnellbleiche.

Zu einem zentralen Aspekt greife zwecks Orientierungshilfe für Teil zwei meiner Replik hier vor. Burkowitz unterscheidet im Artikel oben zwischen Kulturklang und Konsumklang. Dieser Satz lässt sich leicht überlesen, obwohl die Frage nach diesem Unterschied elementar ist. Im Zusammenhang mit Konserven akustischer Instrumenten führt einzig Kulturklang zu einer Instrumenten wie Stimmen gerecht werdenden Wiedergabe. Jede gestandene Tonmeister wird darüber keine Sekunde nachdenken. Laien und Möchtegerne sind sich dieses Unterschieds dagegen meist nicht mal bewusst. Sie habe nie davon gehört und sich daher nie Gedanken darüber gemacht. Im Prinzip dreht sich die ganze Replik im Kern um diesen einen, alles entscheidenden Aspekt, Schritt für Schritt erweitert, bis er in seiner ganzen Tragweite erfassbar wird und ergänzt um praktische Tips. Allerdings umfasst dieser erste Teil mit Vorbemerkungen keine zehn Prozent der Inhalte. Über 90% der Inhalte liegen jetzt noch vor dem Leser.

replik_b11


Die richtige chronologische Reihenfolge der Threads dieser Replik vom März 2016: 

01 – Vorbemerkungen | 02 – Das Grosseganze | 03 – Sackgasse Equalizer | 04 – Sackgasse Kompressor | 05 – Pragmatische Lösungen | 06 – Meine Legitimation | 07 – Kritische Würdigung | 08 – Schlussfolgerungen | 09 – Nachtrag: Pugliese | 10 – Nachtrag: Links | 11 – Nachtrag: Kritik


Replik weiterlesen? | 02 – Das Grosseganze | online ab 12. Juli 2016