Replik | 07 – Kritische Würdigung

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Analog zum Zitat oben lässt sich zu Restaurationen ab Schellack konstatieren: Der tragische Irrtum we will fix it after the transfer geistert immer noch herum. Aber es gibt Hoffnung, grosse Hoffnung. Denn momentan kann ich TangoTunes‘ Golden Ear Edition, deren neuer, eigens dafür entwickelter Prozess seit Dezember 2014 zum Einsatz kommt (plus die vier Kompilationen Angel 1 bis 4 (d’Agostino 1940-46), aber nur die zusätzlich) uneingeschränkt empfehlen. Bei Aufnahmen, für die Schellacks in gutem Zustand zur Verfügung standen, sind diese Restaurationen klangqualitativ das Beste, was je auf dem kommerziellen Markt angeboten wurde und wird. Das ist für Tänzer eine enorme Bereicherung. Lediglich manche von Ahikito Babas Label CTA veröffentlichte CDs können da teilweise mithalten. Das wird kein Label, kein Sammler, kein Aficionado leicht toppen, weil der mit der Golden Ear Edition verbundene finanzielle, personelle und zeitliche Aufwand nicht nur beträchtlich ist, sondern sich im Markt niemals rechnen wird. Ein Restaurationsprojekt mit diesem klangqualitativen Anspruch ist vor allem eins: eine unglaublich erfolgreiche Geld- und Zeitverbrennungsmaschinerie, welche Enthusiasmus zuhauf bedingt und noch viel mehr. 


Die richtige chronologische Reihenfolge der Threads dieser Replik vom März 2016:  

01 – Vorbemerkungen | 02 – Das Grosseganze | 03 – Sackgasse Equalizer | 04 – Sackgasse Kompressor | 05 – Pragmatische Lösungen | 06 – Meine Legitimation | 07 – Kritische Würdigung | 08 – Schlussfolgerungen | 09 – Nachtrag: Pugliese | 10 – Nachtrag: Links11 – Nachtrag: Kritik


TangoTunes‘ Golden Ear Edition

Die Chancen, dass irgendwann vielleicht rein analoge Restaurationen auf LP veröffentlicht oder ab LP transferiert besser klingen, sind kleiner als minimal. LPs kumulieren prozessbedingt die Nachteile dreier analoger Konservenformate: Schellack plus Bandgerät plus LP. Das muss schlechter klingen als ein Transfer von Schellack, welcher direkt in digitale Daten konvertiert wird. Nicht weil digital besser klingen könnte. Musik, gespielt mit analogen Instrumenten, und die menschliche Stimme werden immer eine analoge Performance und damit ein analoges Original bleiben. Daher wird eine digitale Konserve wie jede Konserve immer eine Kopie sein. Auch wenn sie, richtig gemacht, eine sehr gute Konserve sein kann.

Einzig, falls damals für das Schneiden von LPs nie gespielte, makellose Schellack-Pressungen, die heute so kaum mehr zu finden sind, zur Verfügung gestanden hätten, oder von makellosen Schellack-Pressungen in den 50er-Jahren überspielte Bänder heute in bestem Zustand zur Verfügung stehen würden, um diese auf LP zu schneiden, könnten Restaurationen auf LP womöglich besser klingen. Vorausgesetzt, der damalige Transfer auf Band wäre perfekt gemacht und entzerrt worden, die Macher hätten die Qualitäten des Schellack-Direktschnitts erkannt und bewahrt, hätten damals nicht den Frevel begangen, dem Transfer ein zeitgeistiges, EdO-killendes Klangideal aufzuoktroyieren oder die Aufnahmen mit künstlichem Hall für alle Zeiten zu versauen. All das wäre für herausragende Veröffentlichungen auf LP Voraussetzung, ist jedoch extrem unwahrscheinlich. 

Dass die Golden Ear Edition ausschliesslich als Download angeboten wird, bietet den klangqualitativen Vorteil, nicht an den sogar für Restaurationen von ÉdO-Aufnahmen unzureichenden Red-Book-Standard von 16bit/44,1kHz gebunden zu sein.

Im Klartext heisst das: Ein technischer Standard, der um 1980 herum eingeführt wurde, führt bei Tonkonserven erstellt mit einem technischen Standard von 1926 zu klangqualitativen Einbussen. Diese Absurdität zeitgeistiger Idiotie, muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Und sich dann aber auch dagegen wehren.  

Weil manche TA-Liebhaber diese Zusammenhänge auch heute noch nicht zu überblicken vermögen, gibt es bei TT trotzdem einen Download nach Red-Book-Standard. Käufer haben also die Wahl. Ich bin versucht hinzuzufügen, leider. Denn glücklich bin ich darüber nicht. Weil das musikalische Herz der ÉdO-Restaurationen von TTs Golden Ear Edition erst in der hochauflösenden Version mit 24bit/96kHz in ihrer ganzen Musikalität mit exorbitantem Zeitmaschinenfaktor schlägt.

40 Jahre nach Einführung des Red-Book-Standards für die Audio-CD gibt es immer noch kein verbessertes standardisiertes Nachfolgeformat, obwohl seit über 30 Jahren klar ist, dass dieser Standard Musik- und Gesangsdarbietungen nicht adäquat konservieren kann. 


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Der online store von TangoTunes. Dort findet man die von mir propagierte Golden Ear Edition, erkennbar an ihrem Icon auf dem virtuellen Umschlag.

Die finale, ultimative Edition für die Preziosen der EdO ist die Golden Ear Edition nicht – obwohl in dieser Edition bereits heute ein sechsstelliger Betrag in Euro steckt, an dessen Anfang keine Eins steht, ein Team beteiligt ist, welches rund ein Dutzend Personen umfasst, und die aufgewendete Zeit jede Menge Mannmonate verschlungen hat, auch momentan verschlingt und noch verschlingen wird. TangoTunes ist ein von einer Person privat finanziertes, ideelles Projekt mit exorbitantem pekuniärem Dauerdefizit und daher trotz qualitativen Restdefiziten eine tolle Leistung. Christian Xell handelt, anstatt zu lamentieren. Dafür respektiere ich ihn. So was ist alles andere als selbstverständlich im TA, wo viele Macher sich darauf beschränken, die Dinge zu zerreden und bis zum Sanktnimmerleinstag zu zögern, damit sie 08/15 feiern können.

Die verbliebenen Restdefizite sind schnell benannt: Bezüglich Kammertonkorrektur, wo eine solche nötig ist, hat diese Edition noch Defizite. Das ist eine Aufwandfrage. Bezüglich Kompensation der mechanischen, verzögerten Rückkoppelung des Schneidekopfs bei Odeon bis 1931/32 und bei RCA-Victor vermutlich bis 1947/48 hat diese Edition noch Defizite. Das ist eine Aufwandfrage. Um das zu lösen, halte ich einen Entwicklungsaufwand von vier Wochen, über einen Zeitraum von vier Monaten verteilt für realistisch. Plus einen fünfstelligen Betrag in Euro für Investitionen, vor dem keine Eins stehen kann. Aber womöglich unterschätze ich die damit verbundenen Probleme. Bisher bietet kein Entwickler weltweit ein Tool an, welches es Restauratoren erlaubt, diese Eigenart auf effiziente, zeitsparende Weise zu kompensieren. Das wäre Neuland. Technische Details können immer für eine Überraschung gut sein. Des Weiteren sind noch eine ganze Reihe kleinerer Restdefizite unbearbeitet. Das ist ebenfalls ein Aufwandfrage.

All diese Schwächen der Golden Ear Editon ändern aber nullkommanichts daran, dass es DJs seit 2015 möglich ist, mit diesen Restaurationen Tänzer in einem Mass zu begeistern, welches 2013 noch nicht möglich war. Was ein riesiger Schritt vorwärts ist. Vorausgesetzt man weiss, wie man diese Restaurationen vor Ort akustisch in Szene setzt. Dieser Punkt wird häufig unterschätzt. Das ist keine triviale Aufgabe für Laien. Dafür bringt erst ein Amateur im besten, ursprünglichen Sinn dieses französischen Begriffs das notwendige Minimum an Kompetenz mit.

Natürlich stellt sich trotzdem die Frage, ob Restaurationen von Aufnahmen der EdO sich besser machen liessen als TangoTunes‘ Golden Ear Edition. Aber sicher, das ist jederzeit möglich. Wir haben bei Tangotunes während der Entwicklung des Prozesses für die Golden Ear Edition im Team den Fokus der zu erreichenden Qualität ständig an personelle, zeitliche und finanzielle Ressourcen angepasst, die natürlich beschränkt waren. Das ist kein von offiziellen Stellen oder einem Mäzen üppig mit Geldern ausgestattetes Kulturprojekt, welches aus dem Vollen schöpfen darf. Deshalb mussten viele Abkürzungen genommen werden, die ich lieber umschifft hätte. Trotzdem wurde das Ziel eines pragmatischen Optimums bei TangoTunes nie aus den Augen verloren. Das hat Einschränkungen mit sich gebracht, über deren Tragweite man diskutieren könnte. Ich möchte so eine Diskussion aber ausdrücklich NICHT von Zaun brechen, weil ich sie aus Gründen der Verhältnismässigkeit bis auf Weiteres für bedeutungslos halte. Damit niemand auf die Idee kommt, ich würde hier theoretisieren, werde ich darstellen, wie und warum ich zu dieser Einschätzung gelangt bin.


Würde mehr Qualität Sinn machen? Wenn Geld keine Rolle spielen würde sicher. Das tut es aber immer und in der Nische TA der EdO ganz besonders. Mit der Golden Ear Edition werden bei Restaurationen von Schellacks in gutem Zustand 80 bis 90% dessen an Klangqualität erreicht, was technologisch auf der Basis von Schellacks möglich wäre – und bei Schellacks in schlechtem Zustand vielleicht 40 bis 60%. Für die häufig restlichen 10 bis 20% müsste unverhältnismässig viel Aufwand getrieben werden. Es geht um die altbekannte 80/20-Regel. Momentan verursacht die reine Restauration einer Aufnahme der EdO einen Zeitaufwand im Studio, der im Durchschnitt näher bei einer als zwei Stunden liegt.

So effizient kann jedoch einzig ein Restaurations-Crack mit dafür massgeschneiderter Top-Technik arbeiten, der sich mit den Jahren einen ausgefeilten und austarierten Workflow mit den gegensätzlichen Schwerpunkten Qualität versus Effizienz erarbeitet hat, der funktioniert – in einem Raum mit entsprechender Raumakustik. Dabei liegt der Schwerpunkt ganz klar auf Kompetenz und Erfahrung des ausführenden Tonmeisters und seinem alles entscheidenden Workflow. So ein Crack hat seinen Preis, lässt sich weder durch einen Feld-Wald-und-Wiesen-Techniker, noch durch einen begabten Amateur ersetzen.

Ich wünschte, dem wäre nicht so. Aber ein Laie könnte trotz identischer Technik auch nach einem Monat experimentieren nicht dasselbe Resultat in auch nur annähernd derselben Zeit abliefern. Technik und Manpower allein dafür kosten bereits mehr Geld, als sich in dieser globalen Marktnische im Zeitalter des Kopierwahns mit Verkäufen in fünf Jahren erwirtschaften lässt. Denn hinter so einer Restauration steckt neben der Arbeit im Tonstudio stets ein Vielfaches an Arbeitszeit und Kosten für völlig andere Aufgaben, die erledigt sein wollen, bevor mit Transfer und Restauration begonnen und eine fertige Kompilation veröffentlicht werden kann. Das ist eine endlose Geschichte, ein Fass ohne Boden, zeitlich genauso wie pekuniär.

Für die momentan nicht abgedeckten restlichen 10 bis 20% müsste eine Initialphase von zwei Monaten für Tests finanziert werden, also mindestens 360 Tonstudiostunden. Plus ein Budget für zusätzliche Anschaffungen, bestimmt ein mittlerer fünfstelliger Betrag in Euro. Da muss eine alte Frau lange für stricken. Danach würde sich der Aufwand bei guten Schellacks grob geschätzt verdreifachen, auf vielleicht vier bis fünf Stunden pro Restauration im Tonstudio.

Man sieht Schellacks nicht an, ob sie gut klingen. Manchmal klingen fabrikneu aussehende Exemplare schrecklich und versifft aussehende Exemplare grossartig. Bei schlecht klingenden Schellacks wird es immer nur eine einzige Lösung geben: Eine bessere Schellack finden und die Restauration damit nochmals durchführen – und für dieses Update nochmals den vollen Preis verlangen, weil der Aufwand für solche Optimierungen mindestens dem einer neuen Restauration entspricht. Diese Kosten können aber noch höher ausfallen, zB wenn erst die dritte oder vierte gefundene Schellack in einem Zustand ist, der es erlaubt, damit eine gute Restauration zu realisieren oder, falls erstmals ein neues, unmöglich zu erwartendes Problem auftauchen sollte, für das vorhandene Technologie und definierter Prozess keine Lösung anzubieten haben. Mit gelegentlichen Ausrutschern dieser Art muss man in der Restaurationspraxis auch bei sorgfältiger Arbeitsweise rechnen. Das stellt aber meist die Planung für Neuveröffentlichungen auf den Kopf und reduziert so den Zufluss von Geld aus laufenden Verkäufen. So was muss man nebenbei also auch noch finanzieren können, weil solche Probleme grundsätzlich völlig überraschend auftauchen.

Falls man überhaupt je eine Schellack in gutem Zustand findet. Das wird leider nie für jede wichtige Aufnahme der EdO möglich sein. Die Gründe dahinter sind manchmal grotesk. Es gibt Sammler, die sämtliche Schellacks mit Titeln aufkaufen, von denen sie bereits ein gutes Exemplar besitzen, um die neu erworbenen Schellacks des selben Titels sofort zu zerstören. Diese Idioten versuchen, mit solchen Egotollereien ihre Bedeutung als Sammler zu steigern.

Um die effektiven Kosten für die Golden Ear Edition abzudecken, müsste man den Verkaufspreis nach meiner Schätzung mindestens verdrei-, eher verfünffachen. Und für noch bessere Restaurationen auf Grund des dafür nötigen sehr viel grösseren Aufwands in etwa verzehn-, womöglich verfünfzehnfachen. Aber weder das eine noch das andere gibt diese Marktnische her, schon gar nicht in der notwendigen Anzahl an Verkäufen, weil zuviel kopiert wird, was mit digitalen Daten keine Kunst ist. Daher halte ich das momentane Vorgehen bei TangoTunes für einen rundum vernünftigen Kompromiss, den man nicht aufschnüren sollte.


Eine nontango-Referenz

TA-DJs die hören möchten, was in anderen Musik-Genres für Aufnahmen aus den Jahren der EdO an Restaurationsqualiät erzielt wurde, kaufen sich die Jazz-Konserve von Glenn Millers AEF-Orchester in der Restauration von Ted Kendall, um sich dieser Frage hörend annähern zu können, ohne sich auf die Golden Ear Edition von TangoTunes und damit Tango Argentino beschränken zu müssen.

Das digitale re-mastered auf dem Cover der besten Restauration weist in diesem Fall zu Recht auf exzellente Restaurationen hin, ist aber ein Etikettenschwindel des Labels. Ich kenne den Tonmeister, der diese Restaurationen gemacht hat, persönlich. Und ich weiss, mit welcher analogen Technik er Transfers realisiert. Natürlich hat er auch digitale Algorithmen verwendet. Aber die unabdingbare Basis für gute Restaurationen, der alles entscheidende Transfer mit anschliessender technischer Entzerrung entstand zwangsläufig, wie immer, in der analogen Domäne. Was etwas weiter unten über die damalige Aufnahme geschildert wird, ist mit ein Grund dafür, dass diese Konserven so toll klingen. Sie wurden mit nur vier Mikros aufgenommen.

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Kolportiert wird auf dieser Website der Einsatz von fünf Mikros für die Aufnahme. Das kann aber nicht sein, weil das Mischpult im Aufnahmestudio damals lediglich vier Kanäle besass.
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Die Glenn-Miller-Aufnahmen der BBC entstanden im Studio One der Abbey Road Studios. Das hier abgebildete Foto zeigt weder das damalige Studio One noch das dort damals verwendete Mischpult. Soviel zum Thema Marketing und Werbung.
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Falls diese Doppel-CD nicht mehr lieferbar sein sollte, findet man sie online gebraucht problemlos für wenige Euros. Ich habe für mein Exemplar inklusive Versand keine 4 Euros bezahlt.

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Zum Thema weniger ist mehr eine Anekdote aus dem Internet, im Zusammenhang mit dem Polymikrophonierungswahn, der bereits in den 40er-Jahren zu ersten Exzessen führte und inzwischen für schlechte Tontechniker sorgt, weil Polymikrophonierung sich zusammen mit dem total recall der digitalen Domäne gegenseitig hochschaukeln. Das verhindert inzwischen häufig erfolgreich, dass junge Tontechniker lernen ökonomisch zu arbeiten, irreversible Entscheidungen richtig zu treffen und mit den Folgen ihrer Entscheidungen zu leben, ohne klangqualitativ abzusaufen.

In 1944 Glenn Miller brought his Army Air Force Band to Britain to broadcast. His front man visited the BBC and explained that in order to capture the authentic Miller Sound the BBC would need to provide 16 microphones. The BBC engineers were rather concerned by this. Although they were sure that they could find 16 microphones somewhere they had no equipment capable of mixing them all together. Their largest sound desk could only handle 4 microphones and this had proved perfectly adequate for all the other bands that they had broadcast. However the American front man was insistent. To get that all-important Miller Sound the BBC had to supply 16 microphones. So the BBC hunted around, found 16 microphones and laid them out as the front man directed. Glenn Miller and the AAF band arrived and content with their 16 microphones sat down and played. The sound that was broadcast was perfect, the riffing saxes swinging in tight syncopation, the gentle throb of the rhythm section and over it all the sweet sound of a clarinet and tenor sax handling the melody. There you are, said the front man. You give me 16 microphones and I’ll give you the authentic Glenn Miller sound. The BBC engineers just smiled and nodded politely. They wondered if the American front man could tell which 4 of the assembled microphones were actually plugged in and working.


Konzeptionelle Entscheidungen

Gelegentlich fragt mich ein DJ, ob es nicht möglich wäre, die Golden Ear Edition etwas weniger gut gemacht zu veröffentlichen, sie klangqualitativ quasi zwischen den bestehenden argentinischen Restaurationen und denen der besprochenen d’Arienzos anzusiedeln und damit in etwa auf dem Niveau der CTA. Blutige Laien faseln in diesem Zusammenhang manchmal von mehr Laufgeräusche filtern und die Restaurationen damit besser machen. Wozu sollte so was gut sein, zumal die CTAs bereits existieren? Warum sollte man hunderttausende von Euros ausgeben, um etwas nochmals zu machen, was jemand anderer –  in diesem Fall Akihito Baba – bereits realisiert hat?

Diese DJs sind der festen Überzeugung, dass für ihre PA-Technik schlechtere Restaurationen die einzige Lösung sind, die es ihnen erlauben würde, mit Restaurationen von TangoTunes aufzulegen. Oft meint so ein DJ im selben Atemzug überzeugt von sich, das sei überhaupt kein Problem. Er würde genau das momentan selbst erfolgreich mit den Restaurationen von TangoTunes erledigen. Das ist nicht persönlich gemeint: Aber wie um alles in der Welt kann ein DJ ohne profunde Tontechnikausbildung und jahrelange Tonmeisterpraxis im Genre klassische europäische Musik auf die Idee kommen, ihm könnte etwas gelingen, von dem Restaurations-Cracks wissen, dass es mit einem laienhaften Hintergrund unmöglich ist? Wenn das möglich wäre, was natürlich bequem und kostengünstig wäre, gäbe es weder Tonmeister noch eine entsprechende universitäre Ausbildung, hätte nie auch nur ein einziger solcher Spezialist Arbeit in eine Tonstudio gefunden.

Solchen DJs antworte ich innerlich ziemlich genervt und äusserlich vermeintlich ruhig immer wieder dasselbe: Nein, nein und nochmals nein. Warum? Weil wir im Team während der Initial-Phase genau dafür Testreihen durchgeführt haben, um herauszufinden wie viel Handlungsspielraum wir in dieser Sache haben und wo wir sinnvollerweise den Schnittpunkt zwischen Aufwand und Klangqualität legen. Andrew und ich haben uns damals dafür viel Zeit genommen und das rundum ausdiskutiert. Für die Golden Ear Edition geht TangoTunes‘ Restaurations-Crack bei der Bearbeitung mit zwei Equalizern und einem situativ eingesetzten Algorithmus bis genau an jene Grenze heran, bei deren Überschreiten Musikinformation entfernt würde – hörbar.

Basta! Jedes andere Vorgehen wäre unendlich dumm. Es kann nicht Ziel sein, Restaurationen klanglich absichtlich zu verschlechtern. Troilo, d’Arienzo und di Sarli würden sich im Grab umdrehen, wenn sie hören könnten, wie wir ihre Dreiminutenkunstwerke seit Jahrzehnten verhunzen, und Demare und Laurenz sowieso. Mit TangoTunes‘ Golden Ear Edition hat diese verhängnisvolle Tradition 2015 endlich ein Ende gefunden, ist Hoffnung am Horizont aufgetaucht. Das war seit Jahrzehnten überfällig.


Restaurationen reagieren auf Parameterveränderungen nicht im Rahmen eines metrischen Modells wie diese DJs sich das wohl vorstellen. So was ist Wunschdenken. Bei manchen Parametern folgen die Einstellungen einer metrischen Einteilung. Die daraus resultierenden klanglichen Resultate gehorchen aber oft eher einer logarithmischen Skala der Steigerung. Wenn TangoTunes Tonmeister sich einmal an die oben definierte Grenze der Musikverlustfreiheit herangetastet hat, führt nur sehr wenig mehr derselben oder einer anderen Manipulation am Musikmaterial häufig zu einem drastischen Absturz der Klangqualität. Das lässt sich nicht mit einer anderen Skalierung lösen, weil dieser Punkt immer ganz plötzlich erreicht wird, sich diese Grenze bei jeder Restauration aber über einen anders liegenden Schnittpunkt auf der Skala definiert. Diese Tatsache ist frustrierend, lässt sich jedoch nicht ignorieren. Sonst landet das Resultat so eines wenig mehr aber eben bereits zuviel an Manipulation meist in der Region irgendwo zwischen CTA (Akihito Baba) und Euro-Records (Carlos Puente) oder noch weiter unten auf der Klangqualitätsskala. So eine Edition wäre überflüssig. Solche Restaurationen sind seit vielen Jahren in ausreichender Menge auf dem Markt.

Wie schwierig es ist, dieses klangqualitative Niveau zu erreichen und zu halten, zeigen die Resultate mehrerer EdO-Sammler –  darunter sind auch DJs zu finden – die in den letzten zwei, drei Jahren vergeblich versucht haben, als Einzelkämpfer ohne die notwendige Erfahrung und Sachkunde gute Transfers und Restaurationen zu erstellen. In all diesen Fällen ist die klangliche Balance der Resultate unbefriedigend. Kein DJ mit Ohren würde diese Restaurationen seinen Tänzern zumuten.

Besonders schlechte PA-Technik kommt mit den Restaurationen der Golden Ear Edition tatsächlich kaum zurecht. Solches PA verstärkt auf Grund seines unausgewogenen Klangcharakters die Störgeräusche einer Schelllack unverhältnismässig, was unangenehm klingt. Die Ursachen dahinter sind PA-technischer Natur. Der Übeltäter heisst daher PA-Technik, nicht Golden Ear Edition. Wer seine Tänzer mit den Wonnen der Golden Ear Edition reich beschenken will, kann also nicht mit besonders schlechter PA-Technik arbeiten. Er wird sich entscheiden müssen: Entweder auf die Golden Ear Edition verzichten oder seine PA-Tröten verhökern, besser noch entsorgen und EdO-taugliches PA anschaffen. Mittelmässiges PA kann ein DJ, der sein Metier versteht, dagegen durchaus so konfigurieren, dass die Golden Ear Edition damit nicht optimal, aber erfreulich klingt, deutlich besser als die handelsüblichen argentinischen und japanischen Restaurationen. Das ist eine Frage audiotechnischer Kompetenz. Immer vorausgesetzt, die Raumakustik macht dem keinen Strich durch die Rechnung. Gegen richtig schlechte Raumakustik ist auch ein audiotechnisch versierter DJ machtlos, weil für deren Behebung meist bauliche Massnahmen nötig wären.


Eine Gratwanderung

Ob Neuheiten im Rahmen der Golden Ear Edition in Zukunft dasselbe klangqualitative Niveau aufweisen werden wie die aufnahmetechnisch teils überraschend heterogen Aufnahmen d’Arienzos der Jahre 1935-39? Eigentlich müssten sie. Trotzdem kann ich dafür keine Prognose stellen, weil ich seit Februar 2015 nicht mehr Teil des Teams der Golden Ear Edition von TangoTunes bin. Aber die Tanturis deuten darauf hin, dass das klappen wird.

Gut möglich, dass sich die Qualität dieser Edition noch etwas steigern lässt, weil spätere Aufnahmen bessere Voraussetzungen bieten. Vielleicht hilft dabei ein klarer Fokus auf späte Nachpressungen aus den 50er-Jahren. Während des 2. Weltkriegs war es für die Plattenlabels schwierig, genügend Schellack in bester Qualität zu beschaffen. Handel, Qualität und Menge des angebotenen Schellacks waren eingeschränkt. Während des Boom-Jahrzehnts 1935-45 konnten die Presswerke beider führender BA-Labels die Nachfrage trotz Schichtbetrieb manchmal über Wochen hinweg nicht abdecken. Gut möglich, dass dann manchmal die Pressqualität reduziert wurde, um die Produktionsmenge auszuweiten. Dieses Problem existierte in den 50er- und 60er-Jahren für Nachpressungen der Aufnahmen der 30er- und 40er-Jahre nicht mehr. Andererseits ist es möglich, dass die für Nachpressungen verwendeten Vorlagen für die Pressmatrizen bereits Verschleisserscheinungen zeigten. Für beide Möglichkeiten gibt es Anzeichen, aber verifiziert ist das noch nicht.

Allerdings würde sich die Klangqualität dieser Edition schon durch kleine Einsparungen bei Prozess, Technik oder Manpower rasant verschlechtern. Der Arbeitsprozess für die Golden Ear Edition ist zwangsläufig auf Kante genäht und deshalb fragil aufgestellt. Das Projekt von TangoTunes bleibt also eine permanente Herausforderung für seine Macher. Ich wünsche Christian und Andrew dabei viel Erfolg und TangoTunes pausenlos neue Bestellungen für die Golden Ear Edition, damit es weitergehen kann mit der Arbeit daran. Denn einzig Einnahmen aus aktuellen Veröffentlichungen ermöglichen die Realisation neuer Veröffentlichungen.


Notwendige Korrekturen bei Tonhöhe und damit Tempo

Um heute verstehen zu können, warum viele Restaurationen der letzten 30 Jahre mit einer zu hohen und wenige mit einer zu tiefen Tonhöhe veröffentlicht wurden, müssen wir uns daran erinnern, was in den 80er-Jahren mit dem Beginn des Revival dessen Auslöser, dem Tango Escenario, Bühnen-Tango Trend war, welcher das Revival in den 1.-Welt-Staaten des Nordens provoziert und befeuert hat: Junge Tänzer zelebrierten damals auf der Bühne ohne Rücksicht auf Verluste Tempo auf Teufel komm raus. Dafür forderten sie von Musikern besonders rasant gespielte, holzschnittartige Interpretationen. Ausserdem liessen sie für Shows Aufnahmen der EdO ohne Rücksicht auf Verluste beschleunigen.

Dieses Höherschnellerweiter war und ist eine Sackgasse, weil dessen Ende absehbar ist. Schon bald war noch höher genau so wenig realisierbar wie noch schneller oder noch weiter. Weil Tänzer weder Gleithörnchen noch Gepard sind. Dann ist entweder Fokuskorrektur oder Kapitulation angesagt, weil so eine Lebenslüge spätestens dann nicht mehr kaschiert werden kann. Klamauk anstatt Substanz hat noch nie Potential gehabt.

In diesen Jahren peppten aber auch inkompetente Tontechniker ohne Verständnis für Zusammenhänge und ohne Fingerspitzengefühl ihre schlecht gemachten Restaurationen zeitgeistgeil auf, indem sie diese beschleunigten, um sie brillanter klingen zu lassen. Und damit nicht sofort offensichtlich wurde, wie schlecht diese Restaurationen handwerklich – technische Entzerrung – gemacht waren, haben sie ihre Restaurationen in künstlichem Hall ertränkt. Damit wollten sie diese alten Aufnahmen zeitgemäss, sprich poppig klingen lassen, was gar nicht gelingen kann. Denn damit haben sie die Aufnahmen der EdO gemeuchelt.

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Ein nicht mal extremes Beispiel für den damaligen, marionettenhaft-hölzernen Temporausch auf der Bühne, mit den Dinzels 1986.

Die Palette der Klangdefizite im heutigen Milonga-Alltag ist erschreckend gross. Auf der Minusseite verbinden sich Defizite des damaligen Aufnahmeverfahrens mit Defiziten der Schellackpressung, mit Defiziten durch Abnützung und Alterung des analogen Datenträgers, mit Defiziten des Transfers auf ein digitales Speichermedium, womöglich mit einem Zwischenschritt über Bandmaschine, mit Defiziten der Restauration. Dazu gesellen sich Defizite der DJs, Defizite von DJ-Technik, Defizite von PA-Technik und Defizite der Raumakustik. So kommt heute an Milongas auf der audiotechnischen Minusseite eine ganze Menge an Irritation zusammen. Eine manipulierte Tonhöhe, verursacht durch ungenau eingestellte oder unbewusst oder bewusst falsch gewählte Geschwindigkeit des Plattentellers bei Aufnahme oder Transfer, oder gar eine entsprechende Manipulation in der der digitalen Domäne, ist also nur ein Aspekt von vielen, welche uns Tänzern den Hörspass vergällt.

Eigentlich ist es ein Wunder, dass die Aufnahmen des TA der EdO trotz all dieser Defizite, von denen mindestens 80% nach dem Schneiden der Schellack hinzu gefügt wurden und werden, heute trotzdem so viele Menschen rund um den Erdball dermassen faszinieren, dass sie jahrelang ihre Freizeit diesem Tanz und damit dieser Musik verschreiben. Wenn Kreative und Techniker damals nicht so unverschämt gut komponiert, gedichtet, arrangiert, dirigiert, musiziert, gesungen, konserviert und vervielfältigt hätten, würden technische Defizite heute viel massivere Auswirkungen haben. Dafür gebührt ihnen unser Respekt im Umgang mit diesen Konserven. Den können wir ihnen nur erweisen, indem wir diese Aufnahmen nicht länger für eigene Torheiten instrumentalisieren.


Wenn die Tonhöhe von Restaurationen korrigiert ist, stellt sich eine Entspannung beim Hören und Tanzen dieser Musik ein, die im TA mit den bisher lieferbaren, meist zu lieblos oder ohne ausreichendes Knowhow erstellten Restaurationen nicht möglich ist. Obwohl viele Tänzer natürlich nicht benennen können, was genau ihr Wohlbefinden auslöst. Tänzer die einmal angefangen haben wahrzunehmen, wie verdreht und verkantet, verkorkt und verschroben es klingt, wenn die Tonhöhe verändert wurde, leiden fast schon physisch, wenn sie sich Restaurationen anhören müssen, die diesbezüglich deutlich aus dem Rahmen fallen. Und davon gibt es leider mehr als genug auf dem Markt. Es gibt sogar DJs, die sich erdreisten, die sowieso schon vorhandenen Defizite mit DJ-Technik für Techno nach Lust und Laune immer wieder anders zu steigern. Solche Manipulationen verändern aber das Grundtimbre der Instrumente. Und das klingt bei akustischen Instrumenten für jedes Ohr irritierend, obwohl nicht jeder Tänzer wird sagen können, was in plötzlich stört. Es irritiert einfach, weil die Wiedergabe dann etwas Unnatürliches, Hysterische an sich hat.

Natürlich hat TangoTunes‘ Team der Golden Ear Edition bereits während der Initial-Phase eine Prozessschlaufe eingebaut, um die Fehlerquelle falsche Tonhöhe / abweichendes Tempo / manipuliertes Grundtimbre der Instrumente zu beheben. Anhand der Analyse eines vorab erstellten Arbeitstransfers wurde definiert, was zu korrigieren war, bevor mit der eigentlichen Arbeit begonnen wurde. Das klingt theoretisch erfreulich simpel, hat sich in der Restaurationspraxis aber als Knacknuss herausgestellt, obwohl TangoTunes dafür von Anfang an einen Instrumentenbauer und Musiker im Team hatte, der die notwendigen Korrekturwerte lieferte. Es war damals leider nicht möglich, dieser Aufgabe umfassend gerecht zu werden, sämtliche Fehlerquellen auszumerzen.


Technische Zusammenhänge

Wenn bei Restaurationen vorgenommene Tonhöhenkorrekturen gut klingen sollen, können sie leider einzig in der analogen Domäne beim Transfer, dem allerersten Prozessschritt, vorgenommen werden – zwingend vor der technischen Entzerrung. Nachträgliche Korrekturen oder solche in der digitalen Domäne verändern den Klangcharakter der Instrumente in Richtung unnatürlich. Das ist technisch bedingt und nicht verhandelbar, nicht Ansichtssache und damit kein Futter für Trolltollereien. Jede andere Reihenfolge schleicht neue Fehler in die Restauration ein. Das hört man bei Konserven, die mit akustischen Instrumenten eingespielt wurden. Die schlechte Nachricht: Bei bereits veröffentlichten Restaurationen lässt sich dieses Defizit daher nicht nachträglich beheben. Wer diesen Teil des Jobs richtig machen will, kommt nicht darum herum, völlig neue Restaurationen zu erstellen. Und das ist teuer und aufwändig.

Die im Pop oft angewandte Technik, beim DJen das Tempo und damit die Tonhöhe von zwei Stücken aneinander anzugleichen, bis nahtloses Überblenden möglich wird, ist im TA mit Aufnahmen der EdO für jeden DJ Tabu, der hört, was dabei klanglich geschieht. Längst gibt es Software, die es erlaubt, das Tempo zu variieren, ohne die Tonhöhe zu verändern. Technisch machbar ist also allerlei. Aber kein DJ im TA mit einem Funken Sachverstand tut so was Aufnahmen akustischer Instrumente an. Es geht wieder mal um das zentrale Thema Natürlichkeit und changing anything affects everything, weil solche künstlichen Korrekturen den Klangcharakter von akustischen Instrumenten aus der vom Instrumentenbauer mit grosser Akribie realisierten, subtilen Balance schmeissen. All diese Technologien, die für Pop manchmal durchaus Sinn machen, sind für TA der EdO die sprichwörtliche Büchse der Pandora, welche man, einmal geöffnet, nie mehr zu schliessen vermag. Ihr Einsatz ganz besonders in diesem Zusammenhang käme einer audiotechnischen Bankrotterklärung gleich.

Wenn ab Schellack neu transferiert wird, stehen lediglich Tonhöhen- und damit Tempofehler zur Debatte, die bereits während der Aufnahme im Studio, beim Schneiden des Wachsmasters gemacht wurden und daher auf den Schellacks verewigt sind. Diese Fehler sind oft nicht gross. Sie sind trotzdem nicht zu unterschätzen. Die Komplexität dieser Zusammenhänge hier völlig auseinander zu klamüsern, macht keinen Sinn. Das würde den Rahmen jedes Blogs sprengen. Mir ist nach Jahren der Beschäftigung damit klar, warum manche Vorgehensweisen funktionieren und andere nicht, und warum nur eine Reihenfolge der Bearbeitungsschritte zu gut klingenden Resultaten führt, weil mich ein Restaurations-Crack nicht nur in diesen Dingen bei der Hand nahm und dabei auf grosszügige, uneigennützige Weise Betriebsgeheimnisse ausgeplauderte. Diese Unterschiede sind gut hörbar, falls man sich die Zeit nimmt, entsprechende Tests durchzuführen. Aber dazu muss man erst mal auf die Idee kommen, die Unterschiede ausgerechnet dort auszuloten. Das ist nicht offensichtlich.

Aus denselben Gründen sind zB half speed transfers keine überzeugend klingende Lösung, obwohl sich damit Abtastprobleme in den Höhen reduzieren liessen. Hier hilft einzig eine akribische Selektion und Einstellung bei der Wahl der Tonarm-Tonabnehmer-Nadel-Kombination. Es geht wieder mal um changing anything affects everything. Die mit dem Umweg half speed transfer verbundene Veränderung der Dynamik der Nadelbeschleunigung, also unterschiedliche Geschwindigkeitveränderungen der Auslenkung des Abtastdiamanten in der Rille beim Abtasten der Schellack, stehen dem im Weg. Sie beeinflussen das im Tonabnehmer erzeugte elektrische Signal hörbar. Diesen Unterschied kompensiert die anschliessende Tempoverdoppelung in der digitalen Domäne nicht. Aber auch ein verbleiben in der analogen Domäne mittels Bandmaschine könnte das nicht kompensieren. Es gibt kein Werkzeug auf dem Markt, das solche Signalfehler hinterher richtig stellen könnte. Ausserdem wäre das wieder einmal fix it later pur und damit keine schlaue Option, falls Qualität das Ziel ist.

Half speed transfers könnten klanglich nur überzeugen, falls man einen Tonabnehmer-Hersteller damit beauftragen würde, die bei half speed von 78rpm, also 39rpm, entstehenden Fehler durch reduzierte Nadelbeschleunigung zuerst zu erforschen und dann einen Tonabnehmer zu entwickeln, der diese Fehler dank angepasster Bauweise unmittelbar kompensiert. Der dafür notwendige Entwicklungsaufwand wäre enorm. Und ob so was am Ende tatsächlich besser klingt, wüsste man erst hinterher. Grundsätzlich wäre so was auch in der digitalen Domäne realisierbar. Digitale Entwicklungen können aber analoge Vorgänge wie immer lediglich simulieren. Ohne akribische Analyse der bei half speed in der analogen Domäne entstehenden Fehler ist also auch mit digitalen Werkzeugen nichts möglich. Und wieviel tatsächlich möglich wäre mit so einer Emulation, müsste man erst erforschen. Und das würde richtig teuer werden.


Technische Voraussetzungen

Weil Prozesse heute häufig nicht zu Ende gedacht werden, hole ich kurz aus, um anhand dieses einen Beispiels stellvertretend für viele andere zu beschreiben, was für die Berücksichtigung dieses einen, kleinen Aspekts von Restaurationen vorab betreffend Technik erledigt werden muss.

Wir mussten die Motorsteuerung der Plattenlaufwerke nicht nur genau genug kalibrieren, sondern zusätzlich in der Lage sein, kleinste Korrekturen der Umdrehungszahl tatsächlich präzis einstellen zu können. Die dafür notwendige Präzision beträgt eine Stelle hinter dem Komma, also zB 78,2rpm mit einer Toleranz von maximal 0,02rpm. Das mag unspektakulär klingen, ist es aber nicht. Gearbeitet haben wir mit zwei Fabrikaten: Neben traditionellen Arbeitspferden der Studiotechnik – wie zB das EMT 950 – verwendeten wir Studiolaufwerke von Technics – wie zB das SP-15. Diese beiden Direktläufer aus den 70er-Jahren sind gebaut für die Ewigkeit. Und trotzdem gibt es deutlich hörbare Unterschiede.

Als erstes musste die Sollgeschwindigkeit dieser Studiolaufwerke justiert werden. Überraschenderweise war nicht mal die Werkseinstellung der EMT 950 korrekt. Sämtliche Modelle dieser Baureihe, mit denen wir arbeiten, kranken an der exakt selben Abweichung vom Sollwert. Eine Korrektur ist möglich. Aber besonders wartungsfreundlich ist das nicht konzipiert. Bei Technics-Laufwerken war es gar nicht möglich, die notwendige Korrektur an der Steuerelektronik vorzunehmen. Der Hersteller hat eine Kalibration der drei Umdrehungsgeschwindigkeiten für dieses Modell nicht vorgesehen, obwohl das Tempo variiert werden kann. Variation ja, Kalibration nein – das ist absurd. Daher muss man ein Technics SP-15 im semiprofessionellen Bereich verorten. Um kalibrieren zu können, hätten wir auf SP-10 MKII- oder -MKIII mit Custom-Steuerelektronik von Fremdherstellern umsteigen müssen. Solche Zusatzgeräte werden immer noch hergestellt. Technics-Plattenspieler für DJs, produziert während den letzten 25 Jahren, eignen sich nicht für Restaurationsarbeit, weil die verbauten Tonarme sich mit den für Restaurationen ab Schellack notwendigen Tonabnehmern nicht optimal paaren lassen. Für DJs sind das natürlich tolle Laufwerke.

Als zweites musste sichergestellt werden, dass numerisch eingestellte Werte der Feinkorrektur der Laufwerke – egal ob mittels analogem oder digitalem Interface – tatsächlich ohne zu grosse Abweichung umgesetzt werden. Man darf nie davon ausgehen, dass eine digitale Anzeige oder eine analoge Skala dem entspricht, was zB mit einem Plattenteller geschieht. Das sind nur Zahlen, von denen man meist nicht weiss, wie nahe an die Realität sie heran kommen. Bei einer analogen Anzeige ist dieses Problem offensichtlicher als bei einer digitalen. Für diese Justierung verwendet man Messplatten und Messgeräte, braucht man einen richtig schlauen Kopf, weil sich die Probleme wieder mal in Details verbergen. Voraussetzung für deren Bewältigung ist das Wissen eines Ingenieurs. Denn jegliches Messequipment muss vor Gebrauch natürlich ebenfalls kalibriert werden. Sonst ist der ganze Aufwand nutzlos.

Die Notwendigkeit der Kalibration jedes technischen Hilfsmittels, welches für Definition von Tonhöhen herangezogen wird, hat weitreichende Folgen. Wir konnten zB nie davon ausgehen, dass irgendein Stimmgerät, ganz egal ob Hard- oder Software, Werte liefert, die präzis sind. Wir mussten jedes Gerät ausmessen und falls nötig kalibrieren oder entsorgen. Und wie gesagt, zuvor natürlich auch das dazu verwendete Messgerät kalibrieren. All das lässt sich mit genug Zeit und Sorgfalt, Knowhow und Geld lösen. Es ist aber mehr als eine Fleissaufgabe und dauert immer zehnmal länger als man erstmals dafür einplant. Ausserdem muss das periodisch nachgeprüft werden und ist Teamwork. Kein mir bekanntes Inidividuum im TA hat es bisher geschafft, sämtliches dafür notwendiges Wissen in seiner Person zu vereinen. Aber bestimmt gibt es solche Menschen. Wer diesen Aufwand scheut, muss gar nicht erst versuchen, Tonhöhen-, respektive Tempokorrekturen vorzunehmen. Weil er nie wissen wird, was er tatsächlich tut. Weil die von ihm eingestellten Zahlen an Plattenlaufwerken nicht mit der Realität korrespondieren.

Wer die Notwendigkeit der Kalibration von Messgeräten in Frage stellt, dem empfehle ich die Lektüre des Prüfberichts der EMPA, bereits in dieser Replik verlinkt. Sie zeigt, dass bereits bei so was banalem wie Lautheitsmessungen sämtliche Smartphone Apps bis auf eine kläglich scheitern. Obwohl die natürlich alle mit beeindruckenden GUIs glänzen, die Genauigkeit hinter dem Komma suggerieren, womöglich über drei Stellen hinweg. Das ist aber gear head bling bling für Menschen, die nicht wissen was sie tun.


Ein alter Hut

Das bis heute nicht abschliessend gelöste Problem ist die Definition des richtigen Korrekturfaktors – für jede einzelne Schellackseite gesondert eruiert. Diese Diskussion beginnt mit der Frage, in welchen Jahren im TA der EdO in BA mit welcher Kammertonhöhe gearbeitet wurde, was nicht bei allen gran orquestas gleich gehandhabt worden sein muss. Zumindest nicht während der Übergangsphase der Kammertonerhöhung. Die Erörterung dieser Frage führt seit Jahren zu gnadenlosen Grabenkämpfen unter TA-Machern, mit massiven Anfeindungen und verbalem Meuchelmord. Die einen vertreten die Ansicht, dass nur 435Hz richtig sein kann, manche schwören auf 440Hz und die anderen sind überzeugt, dass nur 445Hz richtig sein kann. Aber keine der drei Gruppen hat per se Recht.

Nicht für sämtliche Aufnahmen zwischen 1926 und 58 haben die Gran Orquestas mit demselben Kammerton gearbeitet. Irgendwann in diesen Jahren, vermutlich zwischen 1938 und 47, hat in BA im TA ein Wechsel der Kammertonhöhe stattgefunden. Wann genau, wissen wir heute leider nicht. Vielleicht innerhalb weniger Monate, vermutlich aber innerhalb von rund einem Jahr. Dieses Höherstimmen ist bei Piano wie Bandoneon keine kleine Sache. So was konnte man nicht für alle Musiker dieser Orchester in BA in wenigen Wochen oder Monaten erledigen. Dafür gab es damals schlicht zu viele TA-Musiker in BA und Montevideo. In der ersten Hälfte der 40er-Jahre standen dort in diesem Genre mindestens 8’000, eher 12’000 Musiker in Brot und Arbeit. Das bedeutet: Damals mussten über 1’000 Pianos, über 3’000 Bandoneons innert nützlicher Frist umgestimmt werden. Aber vermutlich waren es eher 2’000 Pianos, weil in jedem Lokal mit live-Darbietungen auch ein Piano stand. Das hat sich nicht in zwei Wochen oder zwei Monaten erledigen lassen, weil die Zahl der dazu befähigten Fachleute beschränkt war. Eine möglichst kurze Übergangszeit wäre aber nötig gewesen, weil diese Musiker häufig in verschiedenen Formationen und manchmal mehrere Orchester miteinander musizierten, besonders während der Karnevalszeit. Ausserdem gab es bereits damals Session-Musiker, besonders gute Instrumentalisten, die von verschiedensten Formationen situativ gebucht wurden und besonders häufig in Aufnahme- und Radiostudios gearbeitet haben. Ein typisches Beispiel dafür war der Geiger Elvino Vardaro. Viele Session-Musiker haben das Problem damals vermutlich mit zwei unterschiedlich gestimmten Instrumenten gelöst, damit sie immer gebucht werden konnten.

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Zweite Hälfte der 30er-Jahre in BA. Im grossen Studio von Radio el Mundo haben sich sämtliche Musiker der Orchester Lomuto, Donato, de Caro, Canaro und Tanturi für die Übertragung einer gemeinsamen Session versammelt, über 50 Tango-Musiker. Mit Sicherheit wurde nicht so aufgenommen. Für das Foto wurden die beiden Mikros auf den Auslegern beiseite geschoben.
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Sponsor dieser regelmässig stattfindenden Sendung war die Firma Shell-Mex, welche im Microcentro an bester Lage ein repräsentatives Verwaltungsgebäude gebaut hatte – mit innovativen architektonischen Details die in Architekturzeitschriften besprochen wurden, wie zB ein unterirdisches Parkhaus mit spiralförmiger Zufahrt im Innenhof, gekrönt von einer Glasbetonkuppel. Nicht nur Shell-Mex, ein weltweites agierendes joint venture zwischen Royal Dutch Shell (Shell) und Britisch Petroleum (BP), hat es sich nicht nehmen lassen, den damaligen kulturellen Überflieger in Argentinien, TA, als Sponsor finanziell zu fördern. Das belegt, dass TA in BA in der Blütezeit eine populäre Hochkultur war, in die zu investieren sogar für völlig andere Branchen lukrativ war, weil damit ein Image-Gewinn verbunden war. So einen gesellschaftlichen Stellenwert wird TA nie mehr haben. 
Jaime Yankelevich, Besitzer von Radio Belgrano galt als der wichtigste Impresario der Ära, der in Argentinien erstmals eine ganze Kette mit Radiostationen aufbaute, welche in den allen wichtigen Städten des Landes einen Ableger hatten.

Spätestens seit Beginn des 19. Jahrhunderts erlebte der Kammerton ein Auf und Ab plus markante regionale Abweichungen von der momentanen Norm. Im allgemeinen wurde im letzten Jahrhundert bis zum 2. Weltkrieg mit einem Kammerton von 435Hz musiziert. 1939 fand die bis heute letzte internationale Stimmtonkonferenz in London statt. Damals hat man sich auf einen Kammerton von 440Hz geeinigt. In Österreich wird heute oft mit einem Kammerton von 443Hz musiziert. Mit historischen Instrumenten wird heute meist mit einem Kammerton von 415Hz musiziert, was gegenüber 440Hz einen Halbton tiefer liegt. Für klassisches Instrumentarium wird oft mit 430Hz musiziert und für romantisches Instrumentarium oft mit 435Hz. So ein Standard ist also schon seit Jahrzehnten mehr Orientierungspunkt als strikte Vorgabe. Denn viele historische Instrumente und viele ältere Instrumente liessen sich gar nicht hoch stimmen, ohne beschädigt zu werden.

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Streitereien darüber, was der ideale Kammerton sei, gibt es seit Jahrhunderten, nicht Jahrzehnten. Und jene, die ihn immer höher schrauben, haben dafür keinerlei stichhaltige Gründe. Höher klingt einfach brillanter – vordergründig und für kurze Zeit. Mehr ist nicht. Derselbe Drang nach Brillanz hat uns in den vergangenen 65 Jahren Myriaden schlechter Lautsprecher geschenkt. Brillanter verkauft sich im direkten, falsch angelegen Vergleich in den Ohren von Laien einfacher – und nächstes Jahr noch etwas brillanter, damit es einfacher bleibt. Aber das hat nichts mit authentischer Tonkonservenwiedergabe zu tun. Das ist Marketing für Faulpelze, mit fatalen Folgen.

Anhänger von 440Hz berufen sich natürlich auf die Londoner Konferenz von 1939 und vergessen meist, dass in Nordamerika bereits 1920 der Kammerton auf 440Hz erhöht wurde. Fakt ist jedoch, dass es nach so einer Konferenz ein Jahrzehnt oder noch länger dauert, bis sich eine neue Norm auf breiter Basis durchsetzten kann. Zudem fand zwischen 1939 und 45 ein Supergau statt: der 2. Weltkrieg. Da standen ganz andere Dinge im Vordergrund, als die Umsetzung irgendwelcher internationaler Standards, die keineswegs unumstritten waren. Mit verfeindeten Nationen war sowieso nur ein eingeschränkter Dialog möglich.

Bis heute kenne ich keinerlei verlässliche Information darüber, ob Argentinien sich in dieser Sache damals an Nordamerika oder Europa orientierte. Vermutlich war eher Europa Richtschnur, weil Porteños dort ihre Wurzeln hatten und Paris, aber auch England ihnen häufig primäres kulturelles Vorbild war, besonders bei den Mehrbesseren, die das Sagen in BA hatten. Ehemalige Mitarbeiter des Teatro Colon waren Zeitzeugen, die diesen Wechsel miterlebt haben und uns heute weiterhelfen könnten. Unterlagen darüber müssen sich im Archiv dieses Konzert- und Opernhauses finden lassen, das akustisch übrigens zu den besten Konzertsälen weltweit gehört. Hier liesse sich anknüpfen, um mehr herauszufinden. Ein Orchesterwart von damals wäre zB eine gute Anlaufstelle. So ein Umstimmen auf einen höheren Kammerton ist keine kleine Sache, ganz besonders für ein Bandoneon. Und der eine oder andere Flügel kam mit diesem Wechsel gar nicht zurecht, musste daher durch ein fabrikneues Instrument ersetzt oder ergänzt werden.

Das war für jedes Aufnahmestudio, jedes Radiostudio, jeden Konzertsaal, jeden Nachtclub eine grössere Investition, welche nicht aus der Portokasse bezahlt werden konnte. Heute kostet zB ein neuer Steinway D-274 weit über € 100’000. Damit wird offensichtlich, dass die € 50’000 bis 150’000, die in einen professionellen Restaurationsstudioarbeitsplatz investiert werden müssen, eine moderate Investition sind.

Ausserdem wurde dieser ziemlich willkürlich veränderte Standard der Konferenz von 1939 schon bald öffentlich kritisiert. Richard Strauss zB meinte dazu 1942: Die hohe Stimmung unserer Orchester wird immer unerträglicher. Es ist doch unmöglich, dass eine arme Sängerin A-Dur-Koloraturen, die ich Esel schon an der äußersten Höhengrenze geschrieben habe, in H-Dur herausquetschen soll. Ausserdem ist es wahrscheinlich, dass in den grossen Radiostudios und den beiden wichtigen Labelstudios in BA jahrelang mindestens zwei Flügel bereitgehalten wurden, um für zwei Stimmtonhöhen ständig ein Instrument zur Verfügung stellen zu können. Das Repertoire der europäischen Klassik bietet nicht sehr viele Kompositionen, für deren Wiedergabe zwei Flügel gleichzeitig zur Verfügung stehen und deshalb gleich gestimmt sein müssen.

Niemand hat diese Fragen bisher in BA seriös abgeklärt. Wir äussern alle lediglich Vermutungen. Daher sind Gockeleien darüber, wer betreffend Kammerton alles besser weiss, sinnlos. Es wird kompliziert bleiben, weil es bis heute mangels entsprechender Nachforschungen in keinem Fall eine einzige, die richtige Antwort gibt. Dazu ist heute zu wenig über die Situation von damals verbürgt. Als Restaurator kann man nach umfassenden Abklärungen lediglich guten Gewissens eine sorgfältig abgewogene Entscheidung treffen und darauf aufbauen. Die wird jedoch garantiert von irgend einem Kasper, der schwarz/weiss oder gar nicht denkt, aber pausenlos alles besser weiss, in der Luft zerrissen werden. Damit muss man leben und darüber lachen können. Denn laut sein heisst nicht zwangsläufig richtig liegen. Grundlegendes zu ignorieren und Dingen nicht auf den Grund zu gehen, mag bequem sein, zeugt aber nicht von Kompetenz, geschweige denn Professionalität.


Stimmtechnische Grobheiten

Ein gran orquesta war zwar immer auf einen bestimmten Kammerton gestimmt. Aber das ist lediglich ein erster Eckwert, ein kleiner Ausschnitt innerhalb des Frequenzsprektrums, lediglich gültig für das eingestrichene A der Pianoklaviatur. Der Konzertflügel im damaligen Studio war wie heute wohltemperiert gestimmt. Aus gehörphysiologischen Gründen werden professionell gewartete Pianos und Flügel aber immer gespreizt gestimmt. Das bedeutet: Die wohltemperierte Stimmung ist bei diesem Instrument nur in den zwei mittleren Oktaven so präzis umgesetzt, dass man Töne dieses Instruments für Tonhöhen-Analysen heranziehen kann. Gegen die Klaviaturenden hin werden die Abweichung vom theoretisch korrekten Wert immer grösser. Das engt die Auswahl an Tönen für eine Analyse enorm ein.

Ein Bandoneon ist dagegen rein gestimmt. Das liesse sich mit einem kalibrierbaren, kalibrierten Stimmgerät überprüfen. Aber beim Bandoneon gibt es zu viele Ausreisser, und vor allem Ausreisser, die sich unmöglich vorhersagen lassen. Manche Instrumente waren bei einigen Tönen bewusst abweichend gestimmt, zB um die Spielbarkeit wichtiger Akkordbestandteile zu verbessern. Daher lässt sich dieses Instrument für die Analyse gar nicht heranziehen. Dabei spielt die Tatsache, dass dieselbe Metallzunge im Bandoneon laut gespielt tiefer schwingt als leise gespielt eine weniger grosse Rolle. Ungeklärt ist auch, ab wann Musiker Bandoneone bevorzugten, die rund zwei Hz höher gestimmt waren als die restlichen Instrumente eines Orchesters. Hier stand wieder mal der Wunsch Pate, etwas brillanter klingende Instrumente zu haben. Für Tonhöhen-Analysen kommt das Bandoneon daher gar nicht in Frage.

Eine Violine eignet sich genauso wenig für Tonhöhenanalysen, weil kein Geiger beim Musizieren auf dem Griffbrett ohne Stege ständig so präzis greifen kann, dass seine Töne für Messungen irgendwelche Aussagekraft hätten. Ausserdem tendieren Geiger wie Sänger immer dazu, Naturterzen zu spielen, respektive singen, was weitere Abweichungen von der theoretisch korrekten oder wohltemperierten Stimmung mit sich bringt.

Dasselbe gilt für den Kontrabass, der zudem oft nicht deutlich genug zu hören ist. Und weil dieses Instrument häufig die linke Hand des Pianisten verdoppelt, kommen seine Töne oft nur unisono vor.

Gute Arrangeure wussten natürlich um die Unzulänglichkeiten der unterschiedlichen Details der Stimmung aller Instrumente eines gran orquestas über den ganzen Frequenzbereich hinweg. Sie haben daher so arrangiert, dass es nicht zu zu dissonantem Unisono-Spiel der Musiker kam, indem sie für Unisono-Passagen kritische Tonhöhen weitgehend ausgeklammerten. Daher sind diese ziemlich umfangreichen, instrumentetechnisch bedingten Unausgewogenheiten beim Hören von Aufnahmen mit TA der EdO kaum je ein Problem.

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Zusammenhänge der Pianostimmung, für Laien einigermassen verständlich erklärt.

Komplizierte Verhältnisse

Also kann man nach sorgfältiger Analyse der Ausgangslage für die Definition der Tonhöhenkorrektur nur die zwei mittleren Oktaven des Konzertflügels heranziehen, muss alle anderen Instrumente ignorieren. Sinnvollerweise benutzt man dafür mindestens drei verschiedene Pianopassagen pro Aufnahme, um die eigene Fehlerquote zu reduzieren. Dabei kommt man nur zu guten Resultaten, wenn man nicht nur misst, sondern parallel zur entsprechenden Passage vergleichend musiziert, nicht nur einen Ton herauszieht, sondern mehrere, und dabei das Gehör letzte Feinheiten beurteilen lässt. Aber nicht auf jeder Aufnahme lassen sich problemlos genügend Töne finden, die isoliert vorkommen.

Wer die Komplexität des Themas und dessen tatsächliche Bewältigung nicht verniedlicht – diese abschliessend darzulegen würde ein Blog schon wieder endgültig sprengen, wer es ganz genau wissen will, macht sich als Auftakt mittels des Links unten schlau –  versteht, warum simple Ansätze, schnelle Lösungen diese Aufgabe nicht zu bewältigen vermögen. Zu belastbaren Korrekturwerten kann man nur durch Teamwork kommen. Die Expertise einer einzigen Person wird in den allermeisten Fällen keiner kritischen Hinterfragung standhalten.

Weil uns Menschen bei dieser Aufgabe unser Gehör einen Streich spielt. Wir haben eine phänomenale Fähigkeit, uns die Realität so zurecht zu hören, dass sie unseren Vorstellungen entspricht. Ich fürchte, wir Menschen sind das Verdrängungslebewesen schlechthin auf unserem blauen Planeten. Das bedeutet zB, dass ein Musiker der 20 Jahre lang meist mit einem Kammerton von 443Hz musiziert hat, einen starken Drang hat, einen Kammerton von 435Hz als unangemessen wahrzunehmen. Auch dort, wo ein Kammerton von 435Hz, vielleicht 438Hz gehörmässig goldrichtig wäre. Instrumentenbauer, die Instrumente für unterschiedliche Kammertonhöhen herstellen und intonieren, sind für diese Aufgabe besser geeignet als die meisten Musiker. Ihr Gehör ist es gewohnt, am selben Tag mit verschiedenen Kammertonhöhen zu jonglieren ohne eigene Präferenzen in ihre Bewertung einfliessen zu lassen. Was wir heute für Restaurationen bestenfalls erreichen können in dieser Sache, ist eine subtile Stimmigkeit definiert von Spezialisten – nicht rechnerisch-logisch präzise, unverrückbare Werte. Das ist auch aber nicht nur unserem heutigen Unwissen um die genauen Umstände von damals geschuldet.

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Spätestens hier wird die ganze Komplexität des Themas offensichtlich.

Wer Genaueres über Hintergründe betreffend Kammertondefinition und -analyse erfahren will, kann die Inhalte der akademischen Website oben studieren. Sie erklärt viele Zusammenhänge. Mehrwissenwollern empfiehlt Instrumentenbauer Thomas aus dem Team als Einstieg zB die Kapitel pitch shifts, octave stretch, octave equivalence und virtual pitch. Das ist allerdings schwere Kost, die durchschnittliche Blog-Leser heillos überfordern wird. Es geht vor allem darum, vermeintlichen Experten, also Besserwissern, den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem man ihnen anhand von Fakten aufzeigt, dass es für diese Korrekturen tatsächlich keine einfachen, schnellen Lösungen gibt.


Eine Dimensionserweiterung zum Kaufen
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Diese sechs Kompilationen sind bei TangoTunes seit Frühjahr 2015 lieferbar.

Diese Kompilationen sind für jeden DJ aus zwei Gründen unverzichtbar. Einerseits ist d’Arienzo das Rückgrat jeder guten traditionellen Milonga. Und das sind für 85% dieser Aufnahmen die besten Restaurationen auf dem Markt, auch den kaum noch erhältlichen CTAs deutlich überlegen. Diese neuen Restaurationen sind momentan so was wie ein Quasistandard. Damit kann ein DJ mit geschulten Ohren und guter Abhöre (Überraschung!) seine DJ- und PA-Technik prüfen und kalibrieren. Gut möglich, dass sich dabei im direkten Vergleich mit klanglich besserer Technik eines versierteren DJ-Kollegen oder dank der Sachkenntnis eines Mentors in Sachen Audiotechnik für TA der EdO zeigt, dass die eine oder andere technische Komponente eines DJs ersetzt werden muss, damit die Qualitäten dieser neuen Restaurationen hörbar werden.   

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Wer Informationen über diese Golden Ear Edition von TangoTunes sucht, liest die liner notes, welche ich damals dafür geschrieben habe.

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Die richtige chronologische Reihenfolge der Threads dieser Replik vom März 2016:  

01 – Vorbemerkungen | 02 – Das Grosseganze | 03 – Sackgasse Equalizer | 04 – Sackgasse Kompressor | 05 – Pragmatische Lösungen | 06 – Meine Legitimation | 07 – Kritische Würdigung | 08 – Schlussfolgerungen | 09 – Nachtrag: Pugliese | 10 – Nachtrag: Links | 11 – Nachtrag: Kritik


Replik weiterlesen? | 08 – Schlussfolgerungen | online ab 26. Juli